Herzenhören
ihm gepasst hätte. Ich öffnete das Kuvert.
Rangun, den 14. Dezember 1941
Sehr geehrte Mi Mi,
mein Neffe Tin Win hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er vor einigen Tagen das Land verlassen hat. Er befindet sich zurzeit auf dem Weg nach Amerika, wo er nach seiner Ankunft in New York das Studium der Rechtswissenschaften aufnehmen wird.
Da er in den Wochen vor seiner Abfahrt mit den Reisevorbereitungen außerordentlich beschäftigt war, ist es ihm verständlicherweise nicht möglich gewesen, sich mit Ihnen persönlich in Verbindung zu setzen oder Ihnen zumindest ein paar Zeilen zu schreiben. Sie werden dafür Verständnis haben. Er hat mir aufgetragen, Ihnen in seinem Namen für die zahlreichen Briefe zu danken, die Sie ihm in den vergangenen zwei Jahren geschrieben haben. Seine schulischen und privaten Verpflichtungen in Rangun ließen ihm bedauerlicherweise keine Zeit, Ihnen zu antworten.
Da mit seiner Rückkehr frühestens nach Abschluss des Studiums in einigen Jahren zu rechnen ist, möchte er Sie bitten, in Zukunft das Schreiben weiterer Briefe zu unterlassen.
Er wünscht Ihnen weiterhin alles Gute.
Hochachtungsvoll
U Saw
Ich las den Brief ein zweites und ein drittes Mal. U Ba schaute mich an, als erwarte er eine Reaktion. Er sah wieder wacher und entspannter aus. Als hätte die Erinnerung nur für einen langen Augenblick einen Schatten auf sein Gesicht geworfen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unvorstellbar, wie sehr der Brief Mi Mi verletzt haben musste, wie verraten und verloren sie sich fühlen musste. Mehr als zwei Jahre lang hatte sie nichts von meinem Vater gehört. Sie hatte Hunderte von Briefen geschrieben, und diese Zeilen waren die einzige Antwort, die sie je erhielt. Sie saß in Kalaw, drehte Zigarren, träumte von meinem Vater, von einem Leben mit ihm und wusste nicht einmal, ob sie ihn je wiedersehen würde. Sie war auf ihre Brüder angewiesen, die sie nicht wirklich verstanden. Ihre Einsamkeit bedrückte mich. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich etwas für sie empfand.
Zu Beginn meiner Reise war sie ein Name gewesen, eine erste Station auf der Suche nach meinem Vater, mehr nicht. Mit der Zeit bekam sie ein Gesicht und einen Körper: Sie war ein Krüppel, der mir meinen Vater stahl und auf den ich eifersüchtig war. Und jetzt? Sie wurde belogen und hintergangen. U Saws Brief empörte mich. Ich empfand Mi Mi weder als Bedrohung noch war sie mir gleichgültig. Sie war mehr als nur eine Station. War sie das Ziel?
»Wie hat sie auf den Brief reagiert?«, fragte ich.
U Ba holte einen zweiten Brief aus der Tasche, der noch zerknitterter war als der erste. Poststempel Kalaw, 26. 12. 1941.
Adressat: U Saw, 7, Halpin Road, Rangun.
Absender: Mi Mi
Hochverehrter U Saw,
wie kann ich Ihnen danken, dass Sie die Umstände auf sich genommen haben, mir zu schreiben. Ihre Mühe beschämt mich. Es wäre nicht nötig gewesen.
Ihr Brief hat mich mit schwer zu beschreibender Freude erfüllt. Tin Win ist auf dem Weg nach Amerika. Ihm geht es gut. Sie hätten mir kaum eine schönere Nachricht übermitteln können. Trotz aller Verpflichtungen und der sehr aufwändigen Reisevorbereitungen fand er noch die Zeit, Sie zu bitten, mir zu schreiben. Wenn Sie wüssten, wie glücklich mich das macht. Noch einmal möchte ich Ihnen sagen, wie dankbar ich bin, dass Sie seinem Wunsch entsprochen haben.
Selbstverständlich werde ich Tin Wins Bitte respektieren.
Ihre Ihnen stets ergebene
Mi Mi
U Ba steckte den Brief wieder ins Kuvert. Wir lächelten uns an. Ich hatte Mi Mi unterschätzt. Ich hatte in ihr ein hilfloses Opfer gesehen, das sich gegen U Saws Komplott nicht wehren konnte. Sie war klüger und stärker, als ich geglaubt hatte. Dennoch tat sie mir Leid. Wie einsam musste sie sich fühlen? Wie kam sie ohne Tin Win zurecht, wie überlebte sie die lange Trennung von meinem Vater?
»Die erste Zeit war nicht leicht«, sagte U Ba, ohne dass ich ihn gefragt hatte. »Im Jahr darauf starben ihre Eltern. Zunächst der Vater, zwei Monate später die Mutter. Ihr jüngster Bruder schloss sich der Unabhängigkeitsbewegung an und ging kurz danach als Guerilla in den Dschungel. Sie sah ihn nie wieder. Die Japaner sollen ihn zu Tode gefoltert haben. Die Familie ihres ältesten Bruders kam 1945 bei einem Bombenangriff der Engländer ums Leben. Es waren schwierige Zeiten. Und trotzdem, ich mag es kaum sagen, Julia, trotzdem wurde sie mit jedem Jahr schöner. Sie trauerte um ihre Familie, keine Frage, sie
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