Herzenhören
Mis Briefen. Es gab viele Details in U Bas Schilderungen, die er nicht von ihm erfahren haben konnte.
»Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen eine Frage stelle?«, sagte ich. »Wer hat Ihnen die Geschichte von Mi Mi und Tin Win so ausführlich erzählt?«
»Ihr Vater.«
»Er kann nicht Ihre einzige Quelle sein. In Ihren Beschreibungen gibt es so viele Einzelheiten, Sie schildern so viele Eindrücke und Gefühle, die mein Vater gar nicht kennen konnte. Wer hat Ihnen den Rest erzählt?«
»Das ist ein berechtigter Einwand. Ich verstehe Ihre Neugier. Bitte erlauben Sie mir, mit der Antwort noch etwas zu warten. Wenn ich Ihnen das Ende der Geschichte erzählt habe, werden Sie keine Fragen mehr haben.«
»Woher haben Sie die beiden Briefe?«, insistierte ich.
»Von Su Kyi. U Saw hatte zu Beginn der Fünfzigerjahre Kalaw besucht. Er hatte nach dem Krieg viel Pech gehabt, oder sollte ich sagen, das Glück hatte ihn verlassen, was ja nicht dasselbe ist. Er hatte nach der Besatzung mit den Japanern kollaboriert, was ihm sowohl die Engländer als auch die für die Unabhängigkeit kämpfenden Birmanen sehr übel nahmen. Nachdem die Briten das Land zurückerobert hatten, brannten einige seiner Reismühlen ab, die Brandursachen wurden nie geklärt. In den Jahren nach der Unabhängigkeit kam es in unserem Land zu zahlreichen politischen Morden und endlosen Fraktionskämpfen. U Saw stand dabei häufiger auf der Seite der Verlierer und büßte dabei einen Großteil seines Vermögens ein. Angeblich hatte er versucht, sich ein Ministeramt zu kaufen. Er kam zweimal für ein paar Tage nach Kalaw. Wir vermuteten, dass es in der Hauptstadt zu gefährlich für ihn war. Er hatte jedes Mal viel Gepäck dabei, vor allem Dokumente, Ordner und Unterlagen, die er in seinem Haus zurückließ. Seinen dritten Besuch überlebte er nicht. Su Kyi fand die Briefe in seinem Nachlass.«
»Wie starb er? Wurde er ermordet?«
»Manche, die ihn kannten, haben es später so formuliert. Er wurde beim Golf vom Blitz erschlagen.«
»Kannten Sie ihn persönlich?«
»Ich habe ihn in Rangun einmal kurz getroffen.«
»Sie waren in Rangun?«
»Ich bin dort eine Zeit lang zur Schule gegangen. Ich war ein sehr guter Schüler. Ein Freund unserer Familie war so großzügig und finanzierte mir einige Jahre lang den Besuch der St. Pauls High School. Ich hatte sogar schon ein Stipendium für ein Physikstudium an einer Universität in Großbritannien. Naturwissenschaften lagen mir.«
»Sie haben in England studiert?«
»Nein. Ich musste zurück nach Kalaw.«
»Warum?«
»Meine Mutter wurde krank.«
»Schlimm?«
»Nein. Das Alter. Sie hatte keine Schmerzen, aber der Alltag fiel ihr zunehmend schwerer.«
»Haben Sie keine Geschwister?«
»Nein.«
»Gab es keine anderen Verwandte?«
»Doch.«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum haben die sich nicht um Ihre Mutter gekümmert?«
»Das war meine Aufgabe. Ich war ihr Sohn.«
»Aber U Ba! Ihre Mutter war nicht schwer krank. Sie hätten sie nach dem Studium zu sich holen können.«
»Meine Mutter brauchte mich in jenen Jahren.«
»War sie ein Pflegefall?«
»Nein, wie kommen Sie darauf?«
Wir redeten aneinander vorbei. Ich wurde mit jeder Antwort aufgebrachter und musste gleichzeitig einsehen, dass ich mit meiner Logik nicht weiterkam.
»Wie lange haben Sie für ihre Mutter gesorgt?«
»Dreißig Jahre.«
»Wie lange?«
»Dreißig Jahre«, wiederholte er. »Sie ist für unsere Verhältnisse sehr alt geworden.«
Ich rechnete. »Sie haben im Alter zwischen zwanzig und fünfzig nichts anderes gemacht, als sich um Ihre Mutter zu kümmern?«
»Damit war ich gut beschäftigt.«
»Ich meine nicht, dass Sie gefaulenzt haben. Ich, ich… Ein Studium in England. Sie hätten doch alle Möglichkeiten dieser Welt gehabt.«
Jetzt war er es, der mich nicht verstand.
»Sie hätten als Physiker in der Forschung arbeiten können. Oder mit etwas Glück an einer der berühmten Universitäten in Amerika.« Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr aufregte. Über U Bas Familie und eine Gesellschaft, die ihm zumutete, seine Begabungen in einem Dorf in den Bergen Birmas zu vergeuden, oder über seine Passivität.
»Ich bin mit meinem Leben mehr als zufrieden, Julia. Aber meine Frau, die ich sehr geliebt habe, ist zu jung gestorben. Doch das hätte mir an jedem Ort der Welt passieren können.«
Wir verstanden uns nicht. Begriff er wirklich nicht, was ich meinte? Mit jeder meiner Fragen entfernten wir uns mehr
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