Herzenhören
sehnte sich nach Tin Win, aber sie litt nicht an einem gebrochenen Herzen. Diesen Schmerz, der ein Gesicht für immer zeichnet, kannte sie nicht. Ihre Züge waren nicht verhärtet, selbst im Alter nicht. Auch wenn das für uns schwer zu verstehen ist, Julia, räumliche Distanz oder Nähe, das war für sie nicht wirklich bedeutsam.
Ich habe mich oft gefragt, was die Quelle ihrer Schönheit, ihrer Ausstrahlung war. Es ist ja nicht die Größe unserer Nase, die Farbe unserer Haut, die Form unserer Lippen oder Augen, was uns schön oder hässlich macht. Was ist es dann? Können Sie als Frau es mir verraten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich werde es Ihnen sagen: Es ist die Liebe. Sie macht schön. Kennen Sie einen Menschen, der liebt und geliebt wird, der um seiner selbst willen geliebt wird und gleichzeitig hässlich ist? Sie brauchen nicht zu überlegen. Es gibt ihn nicht.«
Er goss uns Tee ein und nippte an seinem Glas.
»Ich glaube, es lebte in jenen Jahren in ganz Kalaw kein Mann, der sie nicht zur Frau genommen hätte. Ich übertreibe nicht. Nach dem Krieg kamen Junggesellen aus allen Teilen der Shan-Staaten, manche sollen sogar aus Rangun und Mandalay angereist sein, so weit hatte sich der Ruf ihrer Schönheit verbreitet. Sie brachten Geschenke mit, Schmuck aus Silber und Gold, Edelsteine und kostbare Stoffe, die Mi Mi später im Dorf verschenkte. Sie lehnte alle Anträge ab. Auch später, als Tin Win bereits zehn, dann zwanzig, dann dreißig Jahre fort war.
Es gab Männer, die wollten sterben in der Hoffnung, im nächsten Leben als Schwein, Huhn oder Hund auf die Welt zu kommen und eines ihrer Haustiere zu werden.
Mi Mi lebte im Haus der Eltern mit einem Verwandten, der für sie sorgte. Sie kümmerte sich um die Tiere, die Hühner, die zwei Schweine, den alten klapprigen Wasserbüffel und den Hund. Sie verließ das Grundstück nur selten. Jeden Nachmittag saß sie auf der Veranda und rollte Cheroots, wippte dabei sanft mit dem Oberkörper, die Augen geschlossen. Ihre Lippen bewegten sich, als erzähle sie jemandem eine Geschichte. Wer sie dabei beobachten durfte, wird ihre Anmut, die Eleganz, mit der sie sich bewegte, nicht vergessen.
Ihre Cheroots hatten in der Tat einen ganz eigenen Geschmack. Sie waren süßer, wie mit einer Spur von Vanille, die noch lange im Mund anhielt. Einige Jahre nach der Unabhängigkeit entstand das Gerücht, dass ihre Zigarren nicht nur außergewöhnlich schmecken würden, sondern auch magische Kräfte besäßen. Das wird Sie nicht überraschen, Julia. Sie wissen ja mittlerweile, wie abergläubisch wir Birmanen sind.
Ein Witwer hatte eines Abends eine ihrer Cheroots geraucht. In der Nacht erschien ihm seine verstorbene Frau und gab ihren Segen zu der von ihm schon lange ersehnten Hochzeit mit der Tochter eines Nachbarn. Die hatte sein Begehren bisher strikt abgelehnt, doch als er sich am folgenden Morgen wie jeden Tag vor ihre Veranda hockte und ein Lied für sie sang, kam sie aus dem Haus, setzte sich zu ihm, und sie verbrachten den Tag und den Abend zusammen. Außer sich vor Glück, rauchte der Mann in der folgenden Nacht eine weitere Zigarre von Mi Mi und glaubte, im aufsteigenden Rauch das Gesicht seiner Frau zu sehen, die ihm aufmunternd zulächelte. Auch am nächsten Morgen setzte sich die junge Frau wieder zu ihm, und eine Woche später gab sie seinem Werben nach. Der Witwer führte sein Glück auf Mi Mis Cheroots zurück, und seitdem gab es in Kalaw keinen Mann mehr, der nicht vor einem Spaziergang mit seiner Angebeteten mindestens eine von ihren Cheroots geraucht hätte. Bald wurden sie als Heilmittel gegen allerlei Krankheiten eingesetzt, und besonders wirksam waren sie angeblich bei Haarausfall, Verstopfung, Durchfall, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, streng genommen, bei jeder Art von Schmerzen.
Mit den Jahren wurde Mi Mi zu einer Art weisen Frau von Kalaw, und sie genoss mehr Ansehen als der Bürgermeister, die Astrologen und Medizinmänner zusammen. Menschen, die sich nicht nur auf den Rat der Sterndeuter verlassen wollten, baten sie um ihre Hilfe, sie musste Streit schlichten zwischen Eheleuten, Geschwistern und Nachbarn.«
U Ba stand auf, faltete die Briefumschläge sorgfältig zusammen und steckte sie in den Bund seines Longys. Ich überlegte, wie sie wohl in seine Hände gelangt waren. Welche Rolle spielte er in der Geschichte?
Woher kannte er den Inhalt des Briefwechsels zwischen Mi Mi und Tin Win? Nicht von meinem Vater, der wusste ja nicht einmal von Mi
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