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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Freundin. Ich sehe ihn noch durch die Tür kommen, groß und schlank, mit seinen vollen Lippen, ein Mund, der immer ein wenig zu lächeln schien. Er sah gut aus, und die Frauen schwärmten für ihn, ohne dass er es wollte; vielleicht wusste er es nicht einmal. Alle meine Freundinnen hätten ihn genommen. Seine große Nase, die hohe Stirn und die schmalen Wangen gaben seinem Gesicht etwas Asketisches, das mich anzog. Seine schwarze, runde Brille betonte seine schönen Augen noch. Er hatte eine Leichtigkeit in seinen Bewegungen, eine Eleganz in seinem Ausdruck und seiner Sprache, eine Aura, die selbst meine Eltern beeindruckte. Für sie wäre er der perfekte Schwiegersohn gewesen: gebildet, intelligent, tadellose Manieren, selbstbewusst ohne eine Spur von Arroganz. Natürlich waren sie dennoch gegen die Hochzeit. Sie haben mir bis zu ihrem Tod nicht vergeben, dass ich einen ›Farbigen‹ geheiratet habe. Es war das erste und einzige Mal, dass ich wirklich gegen sie revoltiert habe. Wie du weißt, liegt das nicht in meiner Natur. Einmal bin ich über meinen Schatten gesprungen und zahle dafür mein Leben lang.«
    Sie atmete tief durch. Der Kellner hatte das Risotto gebracht, es stand dampfend vor ihr, aber sie rührte es nicht an.
    »Du kannst gerne nach Birma fahren«, sagte sie erschöpft. »Wenn du zurückkehrst, werde ich dich nichts fragen, und ich möchte auch nicht, dass du mir irgendetwas von deiner Reise erzählst. Was immer du dort findest, mich interessiert es nicht mehr.«
    Die Limousine zum Flughafen wartete vor der Tür. Es war ein klarer, kalter Morgen. Ich sah den Atem des Fahrers, der vor dem Wagen auf und ab ging und rauchte. Der Doorman trug mein Gepäck zum Auto und lud es in den Kofferraum. Als ich einsteigen wollte, gab er mir einen Brief. Eine ältere Dame habe ihn vor einer halben Stunde für mich abgegeben. Die Handschrift meiner Mutter. Warum war sie nicht hoch gekommen? Während der Fahrer von der zweiten Avenue in den Midtown-Tunnel bog, öffnete ich den Umschlag.
    Meine liebe Julia,
    wenn du diese Zeilen liest, bist du auf dem Weg nach Birma, dem Geburtsland deines Vaters. Was immer du dort suchst, ich wünsche dir, dass du es findest.
    Ich schreibe dir, weil mir unser Gespräch bei Sant Ambroeus nicht aus dem Kopf geht. Was ich dir sagen möchte, wollte ich nicht gestern Abend am Telefon besprechen, als wir uns verabschiedeten.
    Ich habe während unseres Mittagessens sehr ablehnend auf deine Reisepläne reagiert. Sie haben mich verletzt, und ich weiß nicht, warum. War es die ganze Enttäuschung, die eine gescheiterte und dennoch fast fünfunddreißig Jahre währende Ehe mit sich bringt? Ein Scheitern, das wir uns nie eingestanden haben, weder dein Vater noch ich. Oder fürchtete ich, dass du dich auf seine Seite schlagen würdest? Verzeih mir solche Gedanken.
    Ich hatte jetzt eine Nacht Zeit, um über deine Frage nach der »Wahrheit« nachzudenken, und befürchte, dass ich dir am Sonnabend etwas Wichtiges verschwiegen habe.
    Dein Vater wollte mich nicht heiraten. Zumindest nicht am Anfang. Von dem Tag, an dem ich ihn fragte, ob wir nicht heiraten wollten, bis zu unserer Hochzeit vergingen über zwei Jahre. Eine Zeit, in der ich nichts unversucht ließ, ihn für mich zu gewinnen. Zunächst meinte er, wir würden zu wenig voneinander wissen und sollten warten, bis wir uns besser kennen würden. Später behauptete er, wir seien zu jung, wir sollten uns Zeit lassen. Kurz vor der Hochzeit warnte er mich, dass er mich nicht so lieben könne, wie ich es vielleicht erwartete oder bräuchte. Ich habe nicht auf ihn gehört, ich glaubte ihm nicht. Seine Zurückhaltung, sein Zögern machten mich nur noch entschlossener. Ich wollte ihn haben, ihn und keinen anderen. In den ersten Monaten hatte ich den Verdacht, dass er in Birma eine Frau hätte, aber er erklärte, er sei nicht verheiratet. Mehr wollte er über die Jahre in seiner Heimat nicht sagen. Es interessierte mich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht. Ich war überzeugt, dass er mir und meiner Liebe auf Dauer sowieso nicht widerstehen könnte. Birma war weit weg. Ich war es, die neben ihm einschlief und neben ihm aufwachte. Ich wollte ihn erobern. War es gekränkte Eitelkeit, die mich nicht aufgeben ließ? Oder war es die brave, wohlerzogene Tochter aus gutem Hause, die gegen ihre Eltern rebellierte? Was gab es für einen besseren Protest gegen die Welt meines Vaters, als einen dunkelhäutigen Mann zu heiraten.
    Ich habe viele Jahre versucht, auf

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