Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
Vom Netzwerk:
diese Frage eine Antwort zu finden. Ohne Erfolg. Vielleicht war es eine Kombination von Gründen. Als ich einsah, dass ich deinen Vater nicht so verändern konnte, wie ich es wollte, war es zu spät. Am Anfang blieben wir wegen euch Kindern zusammen, später fehlte uns der Mut zur Trennung, jedenfalls was mich betrifft. Was deinen Vater angeht, bin ich mir über seine Motive nicht im Klaren. Vermutlich war ich es nie.
    Ich wollte, dass du das weißt, bevor du dich auf die Suche machst.
    Komm gesund wieder.
    Gott segne dich,
    deine Judith
    6
    I ch lag lange wach und schlief dann schlecht, obschon ich mich vor Müdigkeit und Erschöpfung kaum mehr bewegen konnte. Die vielen Fragen ließen mich nicht zur Ruhe kommen, sie jagten durch meinen Kopf, als brülle sie mir jemand ohne Unterlass ins Ohr. Mehrmals in der Nacht schreckte ich auf, saß im Bett und schaute auf den kleinen Reisewecker neben mir. 2.20 Uhr. 3.10 Uhr. 3.40 Uhr.
    Am Morgen fühlte ich mich nicht besser. Ich war von einem Augenblick zum anderen hellwach, mir war übel, ich hatte Kopfschmerzen und mein Herz schlug so heftig, als würde jemand fortwährend gegen meine Brust pressen. Ich kannte das Gefühl aus New York; in den Nächten vor wichtigen Verhandlungen oder Gesprächen erging es mir ähnlich.
    Durch das offene Fenster wehte ein leichter Wind, und ich spürte, wie die Morgenkälte langsam unter meine Decke kroch. Ein frischer exotischer Geruch, den ich nicht kannte, erfüllte mein Zimmer.
    Es war hell geworden, ich stand auf und ging ans Fenster. Der Himmel war dunkelblau ohne eine Wolke, die Sonne lag noch irgendwo versteckt hinter den Bergen. Auf der Wiese vor dem Hotel sah ich blühende Bäume, Blumen und Büsche, die so fremd auf mich wirkten, als wären es Gewächse aus einem Märchenbuch. Ihre Farben waren wilder und ungezähmter als alles, was ich aus Amerika kannte, sie erinnerten mich an meine Basquiat-Bilder zu Hause. Selbst das Rot des Klatschmohns leuchtete so intensiv, wie ich es noch nie erlebt hatte.
    In der Dusche gab es kein warmes Wasser.
    Wände und Decke des Frühstücksraums waren mit dunklem, fast schwarzem Holz getäfelt. Auf einem Tisch am Fenster stand ein Frühstücksgedeck, die anderen Tische waren leer. Ich war der einzige Gast im Hotel.
    Der Kellner näherte sich mit einer tiefen Verbeugung. Ich hatte die Wahl zwischen Tee oder Kaffee und Spiegel- oder Rührei. Cornflakes und Bagel kannte er nicht. Wurst oder Käse gab es nicht.
    »Spiegel- oder Rührei«, wiederholte er.
    »Rühreier«, sagte ich, und er nickte.
    Ich schaute ihm hinterher, bis er durch eine Pendeltür am anderen Ende des Saales verschwand. Auch er bewegte sich so leichtfüßig, dass ich seine Schritte nicht hören konnte. Als schwebe er ein paar Zentimeter über dem Boden durch den Raum.
    Ich war allein, und die Stille war mir unangenehm. Ich fühlte mich beobachtet, als hätten die leeren Tische und Stühle Augen und würden mich anstarren und jede meiner Bewegungen misstrauisch beglotzen. Ich war Ruhe nicht gewohnt, nicht diese Art zumindest. Wie lange konnte es dauern, Kaffee zu kochen? Rühreier zu braten? Warum hörte ich keine Stimmen, keine Geräusche aus der Küche? Die Stille bedrückte mich, sie wurde mir zunehmend unheimlicher, und ich fragte mich, ob es eine Steigerung von Stille gibt, so wie es die Steigerung eines Geräuschpegels gibt. Offensichtlich, denn mit jedem Augenblick hörte ich sie intensiver, bis sie mir in den Ohren wehtat und unerträglich wurde. Ich räusperte mich, klopfte mit dem Messer gegen meinen Teller, nur um etwas zu hören. Die Stille verschluckte die Geräusche und war danach noch hässlicher als zuvor.
    Ich stand auf, ging zur Tür, die in den Garten führte, öffnete sie und trat hinaus. Es war windig. Noch nie hatte das Rauschen eines Baumes, das Summen einer Hummel, das Zirpen eines Grashüpfers so beruhigend geklungen.
    Der Kaffee war lauwarm, die Rühreier verbrannt. Der Kellner stand in der Ecke, lächelte und nickte, und ich aß verbrannte Eier, trank lauwarmen Kaffee und nickte und lächelte zurück. Ich bestellte noch einen Kaffee und blätterte in meinem Reiseführer. Kalaw war ihm knapp eine Seite wert.
    »Gelegen am westlichen Ende des Shan-Plateaus, eine populäre Bergstation unter den Briten. Heute ein ruhiger, friedlicher Ort mit viel Atmosphäre aus der Kolonialzeit. 1320 Meter hoch, angenehm kühl, idealer Platz zum Wandern in Pinien- und Bambuswäldern, beeindruckende Ausblicke auf die Berge und

Weitere Kostenlose Bücher