Herzenhören
Vorstellung, dass er den Brief meines Vaters in den Händen halten und lesen würde, war mir widerlich. Was immer für ein Rätsel sich dahinter verbarg, einen Menschen wie Lauria ging das nichts an. Er würde es nicht verstehen, er würde darauf herumtrampeln und es zerstören, ohne es überhaupt zu merken.
Ich begriff, dass mein Vater mir ein Geheimnis in den Schoß gelegt, mir eine Kostbarkeit, ein Stück seines Herzens oder seiner Seele anvertraut hatte, das nur für mich bestimmt war und das ich hüten und beschützen musste.
»Julia Win. Ich wollte mich nur erkundigen, ob es neue Hinweise gibt«, sagte ich verlegen.
»Nein, es sei denn, Sie haben welche.«
»Ich? Woher soll ich etwas Neues wissen?«
»Warum hätten Sie sonst angerufen?«
Es war ein kurzes Gespräch.
Ich blickte meine Mutter an. »Und?«
»Was möchtest du wissen?«
»Die Wahrheit.«
Sie legte langsam das Besteck weg, tupfte mit der Serviette ihren Mund ab und trank einen Schluck Wein.
»Die Wahrheit ist: Dein Vater hat mich betrogen. Nicht einmal und nicht zweimal. Er hat mich betrogen, jede Stunde, jeden Tag, in den fünfunddreißig Jahren unserer Ehe. Nicht mit einer Geliebten, die ihn heimlich auf seinen Reisen begleitete oder mit der er die Abende verbrachte, wenn er angeblich noch im Büro saß. Ich weiß nicht, ob er je eine Affäre gehabt hat, es spielt keine Rolle. Er hat mich betrogen, weil er mir falsche Versprechungen gemacht hat. Er hat sich mir versprochen, was sonst ist eine Heirat? Er ist meinetwegen zum Katholiken geworden. Er hat die Worte des Geistlichen bei der Trauung wiederholt: In guten wie in schlechten Zeiten. Er hat es nicht ernst gemeint, er hat den Glauben geheuchelt, und er hat die Liebe zu mir geheuchelt. Er hat sich mir nicht gegeben, Julia, nicht einmal in guten Zeiten.
Glaubst du, ich hätte ihn nie nach seiner Vergangenheit gefragt? Glaubst du wirklich, die ersten zwanzig Jahre seines Lebens wären mir egal gewesen? Als ich ihn das erste Mal fragte, vertröstete er mich, schaute mich an mit diesem sanften, vertrauensvollen Blick, dem ich damals noch nicht standhalten konnte, und versprach, mir eines Tages alles zu erzählen. Das war vor unserer Hochzeit, und ich glaubte ihm, ich vertraute ihm. Später habe ich ihn gelöchert, ich habe geweint und ich habe geschrien und mit Trennung gedroht. Ich sagte ihm, ich würde ausziehen und nur dann zurückkommen, wenn er mir nichts mehr verheimlichen würde. Er sagte, er liebe mich, warum mir das nicht genüge. Wie kann man behaupten, jemanden wirklich zu lieben, wenn man nicht bereit ist, alles mit ihm zu teilen, auch die Vergangenheit?
Nach deiner Geburt habe ich in einem seiner Bücher einen alten Brief gefunden. Er hatte ihn kurz vor unserer Hochzeit geschrieben. Es war ein Liebesbrief an eine Frau in Birma. Er wollte mir das erklären, aber ich wollte nichts hören. Es ist seltsam, Julia, aber ein Geständnis, eine Offenbarung ist wertlos, wenn sie zur falschen Zeit kommt. Ist es zu früh, überfordert sie uns, wir sind noch nicht bereit dafür und wissen ihren Wert nicht zu schätzen. Kommt sie zu spät, ist die Chance vertan, das Misstrauen, die Enttäuschung schon zu groß, die Tür verschlossen. Was Nähe schaffen sollte, bringt in beiden Fällen nur Distanz. Für mich war es zu spät. Ich wollte von den Geschichten seiner ehemaligen Geliebten nichts mehr wissen, sie hätten uns nicht näher gebracht, nur noch verletzt. Ich sagte ihm, ich würde mich von ihm trennen, wenn ich noch einmal so einen Brief fände, egal wie alt der sei, und dass er weder mich noch seine Kinder je wieder sehen würde. Das half. Ich habe nie wieder etwas gefunden, obwohl ich seine Sachen alle paar Wochen gründlich durchsucht habe.«
Sie machte eine Pause, leerte ihr Weinglas und bestellte ein neues. Ich wollte ihre Hand nehmen, aber sie zog sie zurück und schüttelte den Kopf. Auch dafür war es zu spät.
»Wie konnte ich mich wehren? Wie konnte ich ihm heimzahlen, was er mir antat? Ich beschloss, meine eigenen Geheimnisse zu haben. Ich teilte weniger und weniger mit ihm, behielt meine Gedanken und meine Gefühle für mich. Er fragte nicht. Er war der Meinung, wenn ich ihm etwas erzählen, wenn ich etwas mit ihm teilen wollte, würde ich das tun. So lebten wir nebeneinander her, bis zu dem Morgen, an dem er verschwand.
Er hat mich ausgenutzt. Ich war jung, noch keine zweiundzwanzig und sehr naiv, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Es war auf dem Geburtstag einer
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