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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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mich an, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile schloss er die Augen, atmete tief ein und begann zu erzählen.
    7
    D er Dezember in Kalaw ist ein kalter Monat. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Die Sonne wandert von einer Seite des Horizonts zur anderen, aber sie steigt nicht mehr hoch genug, um wirklich zu wärmen. Die Luft ist klar und frisch, und nur in den empfindlichsten Nasen liegt noch eine Ahnung des schweren, süßlichen Duftes der tropischen Regenzeit, wenn die Wolken tief über dem Dorf und in den Tälern hängen und das Wasser hemmungslos vom Himmel fällt. Als müsse es die Welt vor dem Verdursten retten. Dann ist es heiß und feucht, auf dem Markt riecht es nach faulem Fleisch, und auf den Eingeweiden und Totenschädeln der Schafe und Rinder hocken träge die Fliegen, zu müde, um den todbringenden Schlägen zu entfliehen. Selbst die Erde scheint zu schwitzen, aus ihren Poren kriechen Würmer und Insekten. Harmlose Rinnsale werden zu reißenden Flüssen, die in einem Augenblick der Unachtsamkeit, Ferkel, Lämmer oder Kinder verschlingen, um sie weiter unten im Tal leblos wieder auszuspucken.
    Der Dezember weiß davon nichts. Der Dezember verspricht den Menschen in Kalaw Ruhe vor den Gewalten der Natur. Er verspricht angenehm kühle Tage und kalte Nächte.
    Der Dezember ist scheinheilig, dachte Mya Mya. Sie saß auf einem Holzschemel vor ihrem Haus und blickte über die Felder und das Tal und auf die Bergkuppen in der Ferne. Die Luft war so klar, dass sie das Gefühl hatte, durch ein Fernglas bis ans Ende der Welt zu schauen. Mya Mya traute dem Wetter nicht. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, in ihrem Leben jemals im Dezember eine Wolke am Himmel gesehen zu haben, hielt sie die Möglichkeit eines Wolkenbruchs nicht für ausgeschlossen. Oder die eines Taifuns, auch wenn seit Menschengedenken nicht einer seinen Weg vom bengalischen Golf bis in die Berge rund um Kalaw gefunden hatte. Ausgeschlossen, darauf beharrte sie, war es nicht. Solange es Taifune gab, konnte einer ihren Heimatort verwüsten. Oder die Erde könnte beben. Auch oder vielleicht gerade an einem Tag wie heute, an dem nichts auf eine Katastrophe hindeutete. Sicherheit ist immer trügerisch. Vertrauen ein Luxus, den sich Mya Mya, davon war sie in der Tiefe ihres Herzens überzeugt, nicht leisten konnte. Ruhe und Frieden gab es für sie nicht. Nicht auf dieser Welt. Nicht in diesem, ihrem Leben.
    Das hatte sie gelernt, an jenem heißen, brütenden Tag im August vor siebzehn Jahren. Als sie unten am Fluss spielten, sie und ihr Zwillingsbruder. Als er ausrutschte auf den glitschigen Steinen. Als er das Gleichgewicht verlor und mit den Armen ruderte, hilflos, wie eine Fliege in einem umgestülpten Glas. Als er in das Wasser fiel, das ihn mitnahm. Auf die Reise. Die ewige. Sie stand am Ufer und konnte nicht helfen. Sie sah sein Gesicht noch einmal aus dem Wasser auftauchen, ein letztes Mal.
    Ein Priester hätte vom Willen Gottes gesprochen, von einer Prüfung ihres Glaubens, die der Herrgott in seiner Weitsicht der Familie auferlegt hat. Die Wege des Herrn sind unergründlich.
    Die buddhistischen Mönche suchten den Grund für das Unglück in einer früheren Existenz des Jungen. Er musste in einem anderen Leben etwas Schreckliches angerichtet haben, und sein Tod war die Strafe dafür.
    Der Astrologe des Ortes gab am Tag nach dem Unfall dem Sinnlosen einen, seinen Sinn. Die Kinder seien zum Spielen Richtung Norden gegangen, und das hätten sie nicht tun dürfen, nicht sie mit ihren Geburtsdaten, an diesem Samstag im August, das musste zu Unheil führen. Hätte man ihn, den Astrologen, nur früher gefragt, er hätte die Kinder gewarnt. So einfach ist das Leben, dachte die Fünfjährige damals, so kompliziert.
    Mit ihrem Bruder starb auch ein Teil von ihr. Dafür gab es keine Beerdigung, die Familie bemerkte es nicht einmal. Ihre Eltern waren Bauern und mit der Ernte beschäftigt und mit der Saat und mit ihren vier anderen Kindern. Sie hatten hungrige Mäuler zu stopfen, es war mühsam genug, jeden Abend Reis und ein wenig Gemüse auf den Tisch zu bekommen.
    Mya Mya die halb Tote, war allein und bemühte sich in den folgenden Jahren, Ordnung zu bringen in ihre aus den Fugen geratene Welt. Sie ging jeden Nachmittag hinunter ans Wasser, saß an jener Stelle, von der aus sie ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hatte und wartete darauf, dass er wieder auftauchte. Sein Leichnam war eine Beute des Flusses geworden, er hatte ihn nicht wieder

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