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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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hergegeben. Am Abend vor dem Einschlafen sprach sie zu ihm, erzählte vom Tag und war sich sicher, dass er sie hören konnte. Sie schlief auf seiner Seite der gemeinsamen Bastmatte, unter seiner Decke und noch Jahre später lag ihr sein Geruch in der Nase.
    Sie weigerte sich, ihrer Mutter beim Wäsche waschen am Fluss zu helfen, sie mied Wasser überhaupt und wusch sich nur im Beisein ihrer Eltern. Als könnte sie in einem Eimer ertrinken. Sie trug bestimmte Kleidung nur an bestimmten Tagen, sprach bis zum fünfzehnten Lebensjahr an Sonnabenden kein Wort und fastete an Sonntagen. Sie schuf sich ein verflochtenes Netz von Ritualen und lebte darin.
    Rituale versprechen Sicherheit.
    Ihre Familie konsultierte seit dem Tod des Bruders den Astrologen nicht mehr einmal im Jahr, sie befragte ihn fast wöchentlich. Sie hockten bei ihm, lauschten jedem seiner Worte, folgten seinen Anweisungen, als könne er sie vor allem Unheil dieser Welt behüten. Er riet ihnen, an bestimmten Daten nicht ins nächste Dorf zu reisen, und um kein Risiko einzugehen, bewegte sich die Familie an solchen Tagen nicht vom Grundstück fort. Keine Saat wurde gesät, ohne dass er es gutgeheißen hätte. Den Bräutigam der ältesten Schwester lehnte er ab, weil seine Sterne nicht zu denen des Mädchens passten.
    Mehr noch als die Eltern hing Mya Mya an den Lippen des Astrologen. Sie verehrte den alten Mann, und solange sie sich an seinen Rat hielt, fühlte sie einen gewissen Schutz. Samstage waren für sie, eine Donnerstaggeborene, Tage, an denen Unheil drohte, an denen sie auf der Hut sein musste, besonders im April, August und Dezember. Daran erinnerte er sie wieder und wieder. Jahrelang verließ sie das Haus an Samstagen überhaupt nicht, bis an einem Sonnabend (im April!) eine Decke neben der Kochstelle in der Küche Feuer fing. Die Flammen waren gefräßig. Sie verschlangen nicht nur die Holzhütte in wenigen Minuten, sie raubten Mya Mya auch den letzten Rest Vertrauen, dass es für sie irgendwo einen sicheren Ort geben könnte.
    Ihr war kalt geworden. Sie hörte in der Küche das Feuer knistern und stand auf. Auf dem Wasser im Kübel vor ihr lag eine dünne Haut, zart und zerbrechlich. Sie trat gegen das Holz und beobachtete, wie die Eisschicht in winzige Schollen zerbrach, die das Wasser schnell verschlang.
    Sie atmete tief durch, hielt mit beiden Händen ihren Bauch und schaute an ihrem Körper hinab. Sie war eine schöne junge Frau, auch wenn sie selber es noch nie so empfunden und ihr das auch noch nie jemand gesagt hatte. Ihr langes schwarzes Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, der fast bis zur Hüfte reichte. Die dunklen, großen, fast runden Augen und die vollen Lippen gaben ihrem Gesicht einen sinnlichen Ausdruck. Sie hatte lange, dünne Finger und muskulöse, aber schlanke Arme und Beine. Sie hatte kaum zugenommen, nirgendwo hatte sich Wasser angesammelt. Nur der Bauch war rund und dick und groß, so groß, dass er ihr fremd erschien, auch noch nach Monaten. Als gehöre er nicht zu ihr. Sie spürte ein leichtes Treten, ein Klopfen, und wusste: Gleich kommen sie wieder.
    Gestern Abend hatte es begonnen, in Abständen von einer Stunde. Nun kamen sie alle paar Minuten. Wellen, die an eine Festung brandeten, immer mehr und höher und kräftiger. Mya Mya merkte, wie sie fortgerissen wurde, sie wollte sich an etwas klammern, einen Arm, einen Ast, einen Stein, es gab nichts, was ihr Halt geben konnte. Sie wollte das Kind nicht, nicht heute, nicht an einem Sonnabend im Dezember.
    Die Nachbarin hatte schon viele Kinder zur Welt gebracht und fand, es sei eine leichte Geburt gewesen, zumal für eine Erstgeburt. Mya Mya erinnerte sich nicht, nicht wirklich. Sie hatte Stunden in einer anderen Welt gelebt. Einer Welt, in der ihre Hände und Beine ihr nicht mehr gehorchten, in der sie ihren Körper nicht mehr spürte, nicht so, wie sie es kannte. In der sie nur noch aus einer großen Wunde bestand. Sie sah fette, schwarze Regenwolken und einen Falter, der sich auf ihre Stirn setzte. Sie sah ihren Bruder in den Fluten. Ein allerletztes Mal. Ein Gedanke segelte vorbei, wie eine Hühnerfeder, die der Wind davonträgt. Ihr Kind. An einem Sonnabend. Ein Zeichen? Die Wiedergeburt ihres Bruders?
    Sie hörte ein Baby schreien. Nicht jämmerlich, eher trotzig und wütend. Ein Junge, sagte jemand. Mya Mya machte die Augen auf und suchte ihren Bruder. Nein, nicht dieses hässliche, verschrumpelte, blutverschmierte Etwas. Dieses hilflose Bündel mit seinem

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