Herzenhören
Pyramide gestapelt, daneben lagen zwei Bananen, eine Papaya und dazwischen mehrere Portionen Tee, kunstvoll in kleinen Häufchen arrangiert. An den Wänden hing weißes Papier, bis an den Rand engzeilig voll geschrieben mit Zahlen und Buchstaben, und in den vier Ecken des Zimmers standen jeweils kleine, mit Sand gefüllte Vasen, in denen qualmende Räucherstäbchen steckten.
Der alte Mann nickte. Khin Maung und Mya Mya knieten auf zwei Bastmatten vor dem Alten nieder. Mya Mya hörte und spürte nichts, außer dem wilden Pochen ihres Herzens. Es war an Khin Maung, das Gespräch zu beginnen, die Fragen zu stellen, das hatte sie ihm vorher unmissverständlich klar gemacht. Sie waren erst ein knappes Jahr verheiratet, aber sie kannte die Passivität ihres Mannes nur zu gut. Er war ein stiller Mensch, der an den Abenden oft nicht mehr als ein paar Sätze sagte. Noch nie hatte sie ihn böse, zornig oder aufgeregt erlebt, und selbst Freude oder Zufriedenheit waren ihm kaum anzumerken. Ein Lächeln, das über sein Gesicht huschte, war alles, was er von seinen Gefühlen preisgab. Er war nicht träge, im Gegenteil, er gehörte zu den fleißigsten Bauern des Dorfes, und oft bestellte er schon lange vor den anderen im Morgengrauen sein Feld. Aber für ihn schien das Leben wie ein ruhiger Fluss, dessen Verlauf im Großen und Ganzen vorgegeben ist. Jeder Versuch, darauf maßgeblichen Einfluss zu nehmen, musste scheitern. Khin Maung war arbeitsam ohne Ehrgeiz, neugierig, ohne Fragen zu stellen, glücklich, ohne Freude auszustrahlen.
»Verehrter Meister«, hörte Mya Mya ihren Mann nach einer langen Pause mit leiser Stimme sagen, »wir sind gekommen, um Sie um Rat zu fragen.«
Der alte Mann nickte.
»Unser Sohn wurde am Sonnabend vor drei Wochen geboren, und wir möchten wissen, ob ihm Unheil droht.«
Der Alte nahm einen Stift und eine kleine Tafel zur Hand und bat um das Datum und die genaue Uhrzeit der Geburt.
»Dritter Dezember, elf Uhr vierzig«, sagte Khin.
Der Astrologe schrieb die Zahlen in Kästchen und begann zu rechnen. Er fügte weitere Zahlen und Zeichen hinzu, strich einige durch und setzte mehrere volle und halbe Kreise auf verschiedene Linien. Als arbeite er an einer Partitur des Lebens.
Nach einigen Minuten legte er die Tafel zur Seite, schaute auf und blickte Mya Mya und Khin an. Aus seinem Gesicht war jedes Lächeln verschwunden.
»Das Kind wird seinen Eltern Sorgen bereiten«, sagte er. »Große Sorgen.«
Für Mya Mya war es, als versinke sie in einem Morast, würde verschlungen, etwas riss sie mit, und es gab keine Hilfe und kein Halten mehr. Keine Hand. Keinen Ast.
Sie vernahm die Stimme des Alten und die ihres Mannes, aber sie hörte nicht, was sie sagten. Es klang gedämpft und wie aus weiter Ferne. Wie in einem anderen Raum, in einem anderen Leben. Große Sorgen.
»Welche Art von Sorgen?«, fragte Khin Maung.
»Vielerlei Sorgen, vor allem gesundheitliche«, sagte der Alte.
Er nahm die Tafel wieder auf und begann erneut zu rechnen und zu schreiben.
»Im Kopf«, sagte er schließlich.
»Wo im Kopf?«, fragte Khin Maung, Wort für Wort so betont und langsam ausgesprochen, als hätte er jeden Buchstaben aus Einzelteilen zusammensetzen müssen. Später war er selber erstaunt über seinen ganz und gar untypischen Ausbruch an Wissensbegierde und Nachdrücklichkeit.
Der Alte blickte auf seine Tafel, die für ihn alle Geheimnisse des Universums beherbergte. Es war das Buch des Lebens und des Sterbens, das Buch der Liebe. Er hätte den Eltern berichten können, was er noch sah. Von den außergewöhnlichen Fähigkeiten, die dieses Kind entwickeln würde, von dem Zauber und der gewaltigen Kraft, die in diesem Wesen steckte, und von der Gabe der Liebe. Aber er sah, dass Mya Mya ihn nicht hörte und Khin Maung ihn nicht verstehen würde.
So sagte er: »In den Augen.«
Mya Mya hatte diesen Teil des Gesprächs nicht mehr vernommen, und auch etwas später, auf dem Heimweg, als ihr Mann in einen Redefluss verfiel, wie sie ihn bei ihm noch nie erlebt hatte, verstand sie nichts. Die Worte summten ihr durch den Kopf wie Fliegen. Große Sorgen.
In den folgenden Monaten versuchte Khin Maung mehrmals, seiner Frau zu erklären, dass der Astrologe zwar von Sorgen, ja, zugegeben, auch von großen Sorgen gesprochen hatte, aber vor allem von gesundheitlichen Sorgen, und dass von einem Fluch oder einem Boten des Unheils nicht die Rede gewesen sei. Sie hörte ihn nicht. Er sah es an ihren Augen. Er sah es an der Art,
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