Herzenhören
wie sie ihren Sohn behandelte. Ihn anfasste, ohne ihn zu berühren, ihn anschaute, ohne ihn zu sehen.
Tin Wins Leben hatte nicht einmal einundzwanzig Tage gewährt, da war es, aus der Sicht seiner Mutter zumindest, entschieden. Gelebt. Verwirkt. Nun hieß es nur noch, den Rest der Zeit mit Anstand über die Runden zu bringen.
Es sollte ihr nicht gelingen.
10
N un, da die Sterne gesprochen hatten, das Schicksal ihres Kindes entschieden war, schlief Mya Mya wieder besser. Sie wusste, was sie zu erwarten hatte. Mit Schicksalsschlägen und schlechten Erfahrungen kannte sie sich aus. Glück und Freude machten ihr Angst, fremd und unvertraut wie sie waren. Sie musste sich nicht mit falschen Hoffnungen plagen, es gab keine Illusionen, die an ihrer Seele nagten, keine Träume, die ihren Gedanken Flügel wachsen lassen konnten. Das beruhigte sie.
Und so war es Khin Maung, der in den Tagen und Wochen nach dem Besuch beim Astrologen wach neben seiner schlafenden Frau und seinem Kind lag. Die ungeheuerlichsten Gedanken trieben ihr Unwesen in seinem Kopf. Vielleicht hatte sich der alte Mann geirrt? Gab es wirklich ein Schicksal, dem wir nicht entrinnen konnten? Wenn nicht wir die Herren unseres Lebens waren, wer dann? Er wollte nicht auf die Sterne hören.
»Mya Mya. Mya Mya«, sagte er, als er in der ersten Nacht aufrecht im Bett saß. Seine Frau lag neben ihm und schlief.
»Mya Mya.« Es klang wie eine Beschwörungsformel.
Sie öffnete die Augen.
Es war Vollmond, eine wolkenlose Nacht, und im fahlen Licht, das von draußen durch das Fenster fiel, sah er die Umrisse ihres Gesichts, die Bewegungen der Augen, die schlanke Nase. Er dachte, wie schön sie sei und dass ihm das noch nie aufgefallen war. Er hatte sie geheiratet, weil seine Eltern sie für ihn ausgesucht hatten. Die Liebe kommt später, hatten sie ihm versichert, und er hatte ihnen geglaubt. Zum einen, weil er immer tat, was sie ihm sagten, und zum anderen, weil er von der Liebe nur sehr unbestimmte Vorstellungen hatte. Er empfand sie als ein Geschenk, einen Segen, der manchen Menschen zuteil wurde und anderen nicht. Einen Anspruch darauf hatte niemand.
»Mya Mya, wir müssen, wir sollten, wir dürfen nicht…«, er wollte ihr so vieles sagen.
»Ich weiß, Khin«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich weiß.«
Sie kroch zu ihm, nahm seinen Kopf in die Arme und drückte ihn an ihre Brust. Für Mya Mya eine seltene Geste, Zärtlichkeiten waren Luxus für sie, überflüssig wie warmes Wasser am Morgen oder ein Lächeln zum Abschied. Sie waren etwas für Träumer oder Menschen, die Zeit, Kraft und Gefühle im Überfluss besaßen. Zu beiden gehörte sie nicht.
Mya Mya glaubte zu wissen, was in ihrem Mann vorging, und er tat ihr Leid. An seinem Herzschlag, an den Zuckungen seines Körpers, an der Art, wie seine Arme sie umschlangen, spürte sie, dass er Zeit brauchen würde. Noch dachte er, sie könnten sich wehren, es gäbe eine Chance, sie könnten ändern, was nicht mehr zu ändern war.
Khin Maung lag in ihren Armen und redete. Nicht laut, nicht zu ihr, sie verstand kein Wort von dem, was er sagte, er sprach in sich hinein, schnell und ohne Unterlass. Sein Flüstern klang fordernd, trotzig, ja, fast drohend, dann flehentlich, bettelnd, verzweifelt, ein Redefluss, der nicht versiegen durfte. Als säße er an einem Sterbebett und seine Stimme, seine Stimme allein, hielte den Kranken noch am Leben.
Er wollte um seinen Sohn kämpfen. In jedem Leben lag ein Versprechen, sagte er sich, und er, Khin Maung, wollte nichts unversucht lassen, im Fall seines Kindes das Versprechen einzulösen. Wenn es sein musste, auch ohne die Hilfe seiner Frau.
Das wollte er ihr sagen, gleich am Morgen, noch vor dem Frühstück. Dann schlief er ein.
Die Gelegenheit zu einem Gespräch ergab sich nicht, nicht vor dem Frühstück, nicht am Abend nach der Feldarbeit.
In der folgenden Nacht erinnerte er sich an jedes Detail ihres Besuches beim Astrologen. Vor seinen Augen erschien das Haus, zuerst verschwommen, dann immer klarer, wie eine Landschaft, wenn sich der Nebel lichtet; er sah das Zimmer, die Kerzen, die Raucherstäbchen, die Tafel, die die Geheimnisse des Lebens barg. Das große Buch der Liebe. Er hörte die Sätze des Alten, ließ sie durch seinen Kopf wandern, langsam, Wort für Wort. Von Fluch war keine Rede. Er wird mit seiner Frau reden. Morgen, in der Früh. Die Gelegenheit ergab sich nicht.
So vergingen die Nächte. Und die Tage. Wäre Khin Maung ein anderer gewesen,
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