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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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wiegen als tausend Tage Ordnung, dachte sie, als sie ins Tal blickte.
    Die Polizisten in ihren sauberen blauen Uniformen hatten nicht die Straße genommen, auf der die Ochsenkarren und zuweilen auch eines der seltenen Autos den Hügel erklimmen, sondern den schmalen Fußpfad, der sich in engen Serpentinen zunächst durch den Pinienwald und dann die Felder bis hinauf zur Kuppe schlängelt. Mya Mya sah die Männer näher kommen, sah ihre Gesichter und spürte Panik in sich aufsteigen. Es war Tin Wins sechster Geburtstag, und sie war immer der festen Überzeugung gewesen, dass sie an den Tagen, an denen sich seine Geburt jährte, ganz besonders auf jedwede Katastrophe gefasst sein müsse.
    Es dauerte keine zwei Atemzüge, da hatte die Angst von ihr Besitz genommen, von ihrer Seele, ihrem Geist und ihrem Körper. Ihr Magen und ihre Eingeweide zogen sich zusammen. Als würden riesige Hände immer fester drücken. Fester und fester. Sie bekam keine Luft mehr. Sie hörte sich wimmern. Sie hörte sich flehen. Sie hörte sich betteln. Es möge nicht wahr sein.
    Die Männer öffneten die Pforte, traten in den Garten und schlossen das Tor wieder. Langsam gingen sie auf Mya Mya zu. Sie spürte das Zögerliche in ihren Bewegungen, und sie spürte jeden Schritt, als wären es Tritte in ihren Körper. Der Jüngere von den beiden hielt den Kopf gesenkt, der Ältere schaute ihr ins Gesicht. Sie kannte ihn von kurzen Begegnungen im Dorf. Ihre Blicke trafen sich, und Mya Mya konnte für die Dauer eines Herzschlags in seinen Augen lesen. Das genügte. Sie wusste alles, und die Angst, dieses Ungeheuer, das dabei war sie zu verschlingen, verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Sie wusste, dass ein entsetzliches Unheil geschehen war, dass nichts und niemand es je wieder ungeschehen machen konnte, dass in ihrem Leben nichts mehr so sein würde, wie es vorher war, und dass dies nun zum dritten Mal geschah und ihr die Kraft fehlte, das auszuhalten.
    Die Polizisten standen vor ihr, der Jüngere wagte es noch immer nicht, seinen Kopf zu heben.
    »Dein Mann hatte einen Unfall«, sagte der Ältere.
    »Ich weiß«, sagte Mya Mya.
    »Er ist tot.«
    Mya Mya schwieg. Sie setzte sich nicht, sie weinte nicht, sie brach nicht in lautes Wehklagen aus. Sie schwieg. (Sie versteinerte, sagte der alte Polizist am Abend zu seiner Frau.)
    Sie hörte die Männer etwas von einem Unfall erzählen, von einem Golfball, den der Wind wohl abgetrieben hatte. Genau an die Schläfe. Sofort tot. Der Engländer übernimmt die Bestattungskosten. Eine kleine Entschädigung. Kein Eingeständnis irgendeiner Schuld. Eine Geste des Mitgefühls. Nicht mehr.
    Mya Mya nickte.
    Als die Polizisten gegangen waren, drehte sie sich um und suchte ihren Sohn. Er saß allein hinterm Haus und spielte. Neben ihm lag ein großer Haufen Tannenzapfen; er versuchte, die Zapfen in eine Kuhle zu werfen, die er ein paar Meter entfernt gebuddelt hatte. Die meisten flogen weit über ihr Ziel hinaus.
    Mya Mya wollte ihn rufen. Sie wollte ihm vom Tod seines Vaters erzählen. Aber wozu? Vermutlich wusste er es bereits, schließlich war er es, der das Unheil anzog, und Mya Mya merkte, wie sie sich zum ersten Mal eingestand, dass sie ihm die Schuld dafür gab. Es war nicht nur die ungünstige Konstellation der Sterne, es war Tin Win, dieser unscheinbare Junge mit seinen schwarzen Haaren, diesen rätselhaften Augen, von denen sie nie wusste, ob sie sie anschauten, in denen sie nicht lesen konnte. Er war es, er zog die Unglücke nicht an, er richtete sie an. Er schuf sie, wie andere Kinder Höhlen bauten oder Verstecken spielten.
    Mya Mya wollte weg. Sie wollte dieses Kind nie wieder sehen.
    In den folgenden sechsunddreißig Stunden funktionierte sie, wie Menschen funktionieren, die nur noch ein Ziel vor Augen haben, ein Ziel, das sie antreibt und dem sie alles andere unterordnen. Sie war die trauernde Witwe, empfing Nachbarn und Freunde, organisierte die Beerdigung für den folgenden Tag, stand vor dem offenen Grab ihres Mannes und sah den Sarg aus Holz darin verschwinden.
    Am nächsten Morgen packte sie ihre wenigen Sachen – ein paar Hemden und Longys, ein zweites Paar Sandalen, einen Kamm, eine Haarspange – in eine alte Tasche für Golfbälle, die ihr Mann einmal aus dem Club mitgebracht hatte. Tin Win stand stumm neben seiner Mutter und schaute zu.
    »Ich muss für ein paar Tage weg«, sagte sie, ohne aufzublicken.
    Ihr Sohn schwieg.
    Sie ging aus dem Haus. Ihr Sohn lief hinterher. Sie

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