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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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drehte sich um, und er blieb stehen.
    »Du kannst nicht mitkommen«, sagte sie.
    »Wann kommst du wieder?«, fragte er.
    »Bald«, sagte sie.
    Mya Mya wandte sich ab und ging zur Gartenpforte. Sie hörte seine leichten Schritte hinter sich. Sie drehte sich um.
    »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«, sagte sie laut und mit scharfer Stimme.
    Ihr Sohn nickte.
    »Du bleibst hier.« Sie zeigte auf den abgesägten Stumpf einer Pinie. »Da kannst du sitzen und auf mich warten.«
    Tin Win lief zu dem alten Baumstumpf und kletterte hinauf. Von dort hatte er einen guten Blick auf den Weg, der zu ihrem Haus führte. Mya Mya ging weiter, öffnete und schloss die Gartentür, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mit schnellen Schritten lief sie den Weg ins Dorf hinunter.
    Tin Win blickte ihr nach. Er sah sie durch die Felder laufen und im Wald verschwinden. Dies war ein guter Platz. Von hier aus würde er seine Mutter schon von weitem kommen sehen.
    11
    T in Win wartete.
    Er wartete den Rest des Tages und die folgende Nacht. Er hockte auf dem flachen Baumstumpf, verspürte keinen Hunger und keinen Durst, ja, nicht einmal die Kälte, die sich am Abend über die Berge und Täler legte. Sie zog an ihm vorüber, wie ein Vogel, der über eine Lichtung gleitet, ohne sich niederzulassen.
    Er wartete den nächsten Tag, er sah es dunkel werden, und er sah den Zaun und die Büsche und die Felder aus der Dunkelheit wieder auftauchen. Er richtete seinen Blick in die Ferne, dorthin, wo der Wald lag, den er nur verschwommen wahrnehmen konnte, aber von dort würde seine Mutter kommen, und mit ihrer roten Jacke würde er sie schon von weitem erkennen, und er würde vom Baumstumpf herunterklettern, über den Zaun steigen und ihr entgegenlaufen. Er würde vor Freude laut rufen, und sie würde in die Knie gehen und ihn in die Arme schließen und an sich drücken. Ganz fest.
    So hatte er es sich schon oft vorgestellt, wenn er allein spielte und träumte, obwohl sich Mutter und Vater nicht einmal herunterbeugten, um ihn in den Arm zu nehmen, wenn er vor ihnen stand und ihre Beine umschlang. Er spürte, wie schwer es ihnen fiel, ihn auch nur zu berühren. Es war seine Schuld, daran zweifelte er nicht, es war die Strafe, die gerechte, er wusste nur nicht wofür und hoffte, dass, egal für welches Vergehen er büßen musste, die Zeit der Sühne irgendwann vorüber sein würde. Diese Hoffnung war stärker denn je, jetzt, da sie den kalten, erstarrten Vater in einen Kasten aus Holz gelegt und in einem tiefen Loch vergraben hatten. Die Sehnsucht nach der Mutter und ihrer Liebe ließ ihn ausharren auf dem Baumstumpf, ließ ihn geduldig warten auf den roten Punkt am Horizont.
    Am dritten Tag kam die Nachbarin und brachte ihm Wasser und eine Schale Reis mit Gemüse und fragte, ob er nicht bei ihnen im Haus warten wolle. Er schüttelte heftig den Kopf. Als bestünde die Gefahr, er könnte dort die Mutter verpassen. Das Essen rührte er nicht an, er wollte es aufheben für die Mutter, es mit ihr teilen, wenn sie zurückkehrte, hungrig von der weiten Reise.
    Am vierten Tag nippte er am Wasser.
    Am fünften Tag kam Su Kyi, die Schwester der Nachbarin, und brachte eine Kanne Tee und mehr Reis und Bananen. Auch davon aß er nichts aus Sorge um die Mutter, es konnte ja nicht mehr lange dauern. Bald, hatte sie gesagt.
    Am sechsten Tag erkannte er die einzelnen Bäume nicht mehr, der Wald war verschwommen, als hätte er Wasser in den Augen. Er glich einem Tuch, das sich im Wind bewegte und gesprenkelt war mit winzigen roten Punkten. Sie kamen auf ihn zu und wurden größer, aber es waren keine Jacken, es waren rote Bälle, die jemand mit Gewalt in seine Richtung schoss. Sie zischten links und rechts an ihm vorbei oder über seinen Kopf hinweg, so knapp, dass er ihren Luftzug spürte. Andere flogen direkt auf ihn zu, verloren aber auf den letzten Metern ihre Kraft und schlugen Zentimeter vor ihm in die Erde ein.
    Am siebten Tag hockte er steif und reglos auf seinem Platz. Als Su Kyi ihn sah, dachte sie, er sei gestorben. Er war kalt und weiß wie der Raureif, der an manchen ganz besonders kalten Januartagen das Gras vor dem Haus bedeckte, sein Gesicht war eingefallen, sein kleiner Körper glich einer Hülle, einem Kokon ohne jedes Leben. Erst als sie näher trat, bemerkte sie, dass er atmete, sah, dass sich seine schmächtige Brust unter dem Hemd rasend schnell bewegte, so wie die Fische vom Markt, wenn sie in ihrer Küche lagen und nach Luft schnappten.
    Tin Win

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