Herzenhören
das?«
Er lächelte wieder und sagte nichts, als wäre die Antwort zu offensichtlich.
In den Wochen nach dem Verschwinden der Mutter kümmerte sich Su Kyi um Tin Win, pflegte ihn und verhalf ihm wieder zu Kräften. Als der erste Monat vergangen war ohne eine Nachricht von seiner Familie in Rangun und Mandalay, zog sie zu ihm und versprach, bis zur Rückkehr der Mutter für ihn zu sorgen und das Haus des Onkels in Ordnung zu halten. Tin Win sagte dazu nichts. Er hatte sich weiter zurückgezogen, und auch die Kraft und der Optimismus einer Frau wie Su Kyi erreichten ihn nicht. Seine Stimmung schwankte von Tag zu Tag, zuweilen von einer Stunde zur anderen. Manchmal sprach er tagelang kein Wort, verbrachte die meiste Zeit allein im Garten oder dem nahen Wald. Wenn sie an solchen Tagen abends in der Küche am Feuer saßen und ihren Teller Reis aßen, hielt er den Kopf gesenkt und schwieg. Wenn Su Kyi ihn fragte, was er im Wald gespielt hatte, blickte er sie an, mit Augen, durch die sie hindurchschauen konnte.
Ganz anders die Nächte. Im Schlaf kroch er an sie heran und schmiegte sich an ihren runden, weichen Körper. Manchmal schlang er seine Arme um sie und drückte so heftig, dass sie davon aufwachte.
An anderen Tagen nahm er sie mit in den Garten und in den Wald und berichtete, was ihm seine Freunde, die Bäume, denen er allen Namen gegeben hatte, erzählten. Oder er kam zu ihr mit einer Hand voll Käfer, Schnecken oder den wundersamsten Schmetterlingen, die sich auf seinen Händen niedergelassen hatten und erst weiterflogen, wenn er den Arm hoch in die Luft streckte. Tiere hatten keine Angst vor ihm.
Abends vor dem Einschlafen bat er Su Kyi, ihm Märchen zu erzählen. Er regte sich bis zum Ende der Geschichte nicht und sagte dann: »Singe noch einmal.«
Und Su Kyi lachte und sagte: »Ich singe doch gar nicht.«
Und Tin Win antwortete: »Aber ja, es klingt wie Gesang. Bitte, noch einmal.«
Su Kyi erzählte noch ein Märchen und noch eins, und sie erzählte, bis er eingeschlafen war.
Sie ahnte, dass ihre Worte ihn nur so, verschlüsselt, erreichten, dass er in einer Welt lebte, die ihr verschlossen war und der sie sich nur behutsam und voller Achtung nähern durfte. Sie hatte selber zu viel Leid erfahren, sie wusste zu viel vom Leben, als dass sie auch nur versuchen würde, sich ungebetenen Zugang zu seinen Fluchtburgen zu verschaffen. Sie hatte es erlebt, dass Menschen zu Gefangenen dieser Festungen, ihrer Einsamkeit, wurden und sie bis an ihr Lebensende nicht mehr verließen, und sie hoffte, Tin Win würde lernen, was sie mit den Jahren gelernt hatte: dass es Wunden gibt, die die Zeit nicht heilt, die sie aber schrumpft auf eine Größe, mit der es sich leben lässt.
12
S u Kyi erinnerte sich nicht, wann es ihr zum ersten Mal aufgefallen war. An jenem Morgen, als sie vor dem Haus stand und Tin Win am Zaun, und sie nach ihm rief, und er sich umschaute, den Kopf hin und her bewegte, als suche er sie? Oder ein paar Tage später beim Abendessen, als sie auf einem Holzbalken vor der Küche hockten, ihren Reis löffelten und sie ihn auf einen Vogel hinwies, der ein paar Meter vor ihnen auf dem Rasen saß?
»Wo?«, fragte er.
»Dort, neben dem Stein.«
»Ach, da«, sagte er und schaute in die falsche Richtung.
Sie sah, wie er immer die gleichen Wege ging im Garten, im Haus oder auf den angrenzenden Wiesen und Feldern, und wie er häufig über Stöcke oder Steine stolperte, wenn er einmal von seinen gewohnten Pfaden abwich. Sie sah, wie er zuweilen für den Bruchteil einer Sekunde, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, daneben griff, wenn sie ihm eine Schale oder Tasse reichte. Wie er die Augen leicht zusammenkniff, wenn er etwas fixierte, was mehr als ein paar Meter entfernt stand. Als suche er etwas im dichten Frühnebel, der an manchen Tagen durch das Tal zog.
Tin Win wusste nicht, wann es begonnen hatte, aber die Berge und Wolken am Horizont waren schon immer etwas undeutlich gewesen. Er kannte es nicht anders.
Seit dem Tag, an dem seine Mutter verschwunden war, war es schlimmer geworden. Zunächst konnte er vom Garten aus den Wald nicht mehr sehen. Die einzelnen Bäume verloren ihre Formen und Konturen, sie verschmolzen miteinander und verschwammen zu einem braungrünen, fernen Meer. Ein grauer Nebel verhüllte in der Schule den Lehrer, er hörte seine Stimme klar und deutlich, als säße er neben ihm, nur sehen konnte er ihn nicht. So wenig wie die Bäume oder die Felder oder das Haus oder Su Kyi, wenn
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