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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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hörte die Frau nicht und sah sie nicht. Die Welt um ihn herum war in einen milchig weißen Nebel getaucht, in dem er langsam, aber sicher verschwand. Sein Herz pochte. Leben steckte noch genug in ihm; gewichen war die Hoffnung, und das ließ ihn wie einen Toten aussehen.
    Er spürte, wie ihn zwei Hände berührten, wie sie ihn hochhoben, in die Arme nahmen und forttrugen.
    Es war Su Kyi, die sich seiner annahm. Eine ältere, kräftige Frau mit einer tiefen Stimme und einem Lachen, an dem die Prüfungen des Lebens scheinbar spurlos vorübergegangen waren. Ihr einziges Kind hatte die Geburt nicht überlebt, ihr Mann war im Jahr darauf an Malaria gestorben. Nach seinem Tod hatte sie ihre kurz zuvor fertig gestellte Hütte verkaufen müssen und lebte seither bei Verwandten, mehr geduldet als erwünscht. In den Augen ihrer Familie war sie eine schrullige, etwas unheimliche Alte mit verqueren Ansichten über das Leben und den Tod. Im Gegensatz zu allen anderen war es ihr nicht möglich, in den Schicksalsschlägen, die sie ereilt hatten, einen höheren Sinn zu erkennen, auch glaubte sie nicht, dass ungünstige Konstellationen der Sterne den Tod der geliebten Menschen verursacht hatten. Es waren Beispiele für die Launen des Lebens, die es zu akzeptieren galt, wollte man das Leben lieben, und sie liebte das Leben. Sie war der Überzeugung, dass nur wenig im Leben vorherbestimmt war und dass das Glück in jedem Menschen eine Heimat finden konnte. Laut durfte sie das nicht sagen, aber jeder wusste um ihre Ansichten, und die machten sie zur ersten Verbündeten Tin Wins.
    Sie hatte den Jungen der Nachbarn in den vergangenen Jahren häufiger beobachtet und über seine helle Haut gestaunt, die dem leichten Braun von abgefallenen Piniennadeln oder Eukalyptusblättern glich und so viel heller war als die seiner Eltern. Sie hatte gesehen, wie aus dem kleinen Kind ein Junge wurde mit einem langen, fast schlaksigen Körper, scheu wie eine der Eulen, die sie so oft rufen hörte, aber niemals sah, ein Junge, den sie nie mit anderen Kindern erlebte.
    Einmal hatte sie ihn im Wald getroffen. Sie war auf dem Weg ins Dorf, und er saß unter einer Pinie und beobachtete eine kleine grüne Raupe, die über seine Hand kroch.
    »Tin Win, was machst du hier im Wald?«, fragte sie.
    »Ich spiele«, sagte er, ohne aufzublicken.
    »Warum ganz allein?«
    »Ich bin nicht allein.«
    »Wo sind deine Freunde?«
    »Überall. Siehst du sie nicht?«
    Su Kyi blickte sich um. Sie sah niemanden.
    »Nein«, sagte sie.
    »Die Käfer und die Raupen und die Schmetterlinge sind meine Freunde. Und die Bäume. Sie sind meine besten Freunde.«
    »Die Bäume?«, wunderte sie sich.
    »Sie laufen nicht weg. Sie sind immer da, und sie erzählen so schön. Hast du keine Freunde?«
    »Doch, natürlich«, sagte sie und fügte nach einer Pause hinzu: »Meine Schwester zum Beispiel.«
    »Nein, richtige Freunde.«
    »Keine Bäume und Tiere, wenn du das meinst.«
    Er hob den Kopf, und sie erschrak bei seinem Anblick. Hatte sie ihn noch nie wirklich angesehen, oder war es das Licht im Wald, das sein Gesicht so veränderte? Es schien wie aus Stein gemeißelt, so ebenmäßig und gleichzeitig Furcht erregend leblos. Dann trafen sich ihre Blicke, und er schaute sie an, viel zu streng und zu ernst für ein Kind, und sie erschrak ein zweites Mal, weil sie ahnte, dass er für sein Alter viel zu viel vom Leben wusste. Sekunden später flog über dieses versteinerte Gesicht ein Lachen, sehnsuchtsvoll und zart, wie sie noch nie eines gesehen hatte. Es war dieses Lächeln, das in ihr haften blieb, das sie so berührte, dass sie Tage brauchte, um es wieder loszuwerden. Sie sah es am Abend, wenn sie die Augen schloss, und morgens, wenn sie aufwachte.
    »Ist es wahr, dass aus Raupen Schmetterlinge werden?«, fragte er plötzlich, als sie weitergehen wollte.
    »Ja, das stimmt.«
    »Und was wird aus uns?«
    Su Kyi blieb stehen und überlegte.
    »Das weiß ich nicht.«
    Sie schwiegen beide.
    »Hast du schon einmal Tiere weinen sehen?«, fragte er.
    »Nein«, antwortete sie.
    »Und Bäume und Blumen?«
    »Nein.«
    »Ich aber. Sie weinen ohne Tränen.«
    »Woher weißt du dann, dass sie weinen?«
    »Weil sie traurig aussehen. Wenn du genau hinschaust, siehst du es.«
    Er stand auf und zeigte ihr die Raupe auf seiner Hand.
    »Weint sie?«, fragte er.
    Su Kyi betrachtete das Tier eine Weile.
    »Nein«, meinte sie schließlich.
    »Stimmt«, sagte er. »Aber du hast es geraten.«
    »Woher weißt du

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