Herzenhören
sie mehr als ein paar Armlängen von ihm entfernt stand.
Tin Win orientierte sich nicht mehr an Gegenständen und ihren Details, er lebte zunehmend in einer Welt, die vor allem aus Farben bestand. Grün war der Wald, rot das Haus, blau der Himmel, braun die Erde, lila die Bougainvillea und schwarz der Zaun um den Garten. Aber auch auf die Farben war kein Verlass, sie verblassten, und mit der Zeit legte sich ein milchig weißes Tuch über ihn, das alles bedeckte, was außerhalb eines Radius von wenigen Metern lag.
Die Welt versank vor seinen Augen, sie erlosch, wie ein Feuer, das keine Wärme und kein Licht mehr spendet.
Tin Win gestand sich ein, dass es ihn nicht sonderlich störte; er hatte keine Angst vor der ewigen Dunkelheit oder was immer den Bildern, die seine Augen sahen, folgen würde. Er sagte sich, dass er nicht viel verpasst hätte, wäre er blind geboren worden, und er konnte sich nicht vorstellen, dass er viel vermissen würde, sollte er gänzlich erblinden.
Und so war es. Als er drei Tage nach seinem zehnten Geburtstag erwachte und die Augen öffnete, hatte der Nebel die Welt verschlungen.
Tin Win lag still in seinem Bett und atmete ruhig ein und aus. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Nichts. Er blickte nach oben, dorthin, wo vor kurzem noch die Zimmerdecke war, und er sah nichts als ein weißes Loch. Er richtete sich auf und wandte den Kopf hin und her. Wo war die Holzwand mit den rostigen Nägeln? Das Fenster? Das alte Tischchen, auf dem der Tigerknochen lag, den sein Vater vor langer Zeit im Wald gefunden hatte? Wohin er auch blickte, es war, als schaue er in ein weißes Gewölbe ohne Konturen, ohne Vorder- oder Hintergrund, ohne Grenzen. Als hätte er die Unendlichkeit entdeckt.
Neben ihm lag Su Kyi. Sie schlief und würde bald aufwachen. Er hörte es an ihrem Atem.
Draußen war es bereits hell. Der Gesang der Vögel verriet ihm das. Tin Win stand vorsichtig auf und tastete mit seinen Zehen nach dem Ende der Strohmatte. Er spürte Su Kyis Beine und stieg über sie hinweg. Er stand im Zimmer und überlegte kurz, wo sich die Küche befinde. Er machte ein paar Schritte und fand die Tür, ohne gegen den Rahmen oder die Wand zu laufen, ging in die Küche, um die Feuerstelle herum, am Schrank mit den Blechnäpfen vorbei, hinaus auf den Hof. Er hatte sich nicht gestoßen, nicht einmal die Hände zum Tasten ausgestreckt. Vor der Tür blieb er stehen, fühlte die Sonne auf seinem Gesicht und wunderte sich über die Sicherheit, mit der er sich im Nebel, diesem Niemandsland, bewegte.
Den Holzschemel hatte er vergessen. Er schlug mit dem Gesicht auf die harte Erde, der Schmerz am Schienbein ließ ihn kurz aufschreien, etwas hatte ihm das Gesicht zerkratzt, sein Speichel schmeckte nach Blut.
Er blieb liegen, bewegte sich nicht.
Er spürte, wie etwas seine Wange entlangkroch, über seine Nase auf die Stirn und in den Haaren verschwand. Für eine Raupe war es zu schnell. Eine Ameise vielleicht, ein Käfer? Er wusste es nicht. Er konnte eine Ameise nicht mehr von einem Käfer unterscheiden und fing an zu weinen, leise und ohne Tränen. Wie die Tiere. Er wollte nicht, dass ihn je wieder jemand weinen sah.
Er tastete mit der Hand über den Boden, fühlte die Unebenheiten, fuhr mit den Fingern durch die winzigen Täler und Höhen, als entdecke er die Welt neu. Wie rau der Boden war, wie viele Steine und Kuhlen es gab. Warum waren sie ihm bisher nie aufgefallen? Er rollte ein Stück Reisig zwischen Daumen und Zeigefinger und hatte das Gefühl, das Stückchen Holz zu sehen. Er überlegte, ob das Bild, ob alle Bilder in seiner Erinnerung allmählich verblassen würden, oder ob er in Zukunft die Welt zumindest durch das Fenster seines Gedächtnisses und seiner Phantasie sehen könnte. Er dachte an Su Kyi und hatte ihr Gesicht vor Augen.
Er horchte. Der Boden summte, er sang leise, kaum hörbar, es waren Geräusche, die er nicht kannte und nicht deuten konnte. Tin Win begriff, dass seine Hände, seine Nase und seine Ohren ihn von nun an durch die Welt führen würden. Würde er lernen ihnen zu vertrauen? Er, der bisher in seinem Leben nichts und niemandem vertrauen konnte?
Su Kyi hob ihn auf.
»Der Hocker stand direkt vor dir«, sagte sie. Es war eine Feststellung, kein Vorwurf.
Sie holte Wasser und ein Tuch; er spülte sich den Mund aus, und sie wischte ihm das Gesicht ab. Er hörte an ihrem schweren Atem, wie sehr sie sich erschrocken hatte.
»Tut es sehr weh?«, fragte sie.
Er nickte.
Sein
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