Herzenhören
Speichel hatte wieder den säuerlichen Geschmack von Blut.
»Komm mit in die Küche«, sagte sie, stand auf und ging voraus.
Tin Win blieb sitzen, unsicher, in welche Richtung er gehen sollte. Nach ein paar Sekunden kam Su Kyi wieder aus dem Haus.
»Warum kommst du nicht?«
Ihr Schrei war bis ins Dorf hinunter zu hören, und noch Jahre später erzählten sich die Menschen in Kalaw, dass jeder, der ihn hörte, zutiefst erschrak.
Der Arzt im kleinen Krankenhaus am Ende der Hauptstraße wusste keinen Rat. Eine Erblindung in diesem Alter und ohne Unfall, einfach so, das hatte er noch nicht erlebt. Er konnte nur Mutmaßungen anstellen. Ein Tumor im Gehirn war es wohl kaum, da der Patient weder über Schwindel noch über Kopfschmerzen klagte. Vielleicht eine Nervenkrankheit oder eine Erblast. Ohne die genaue Ursache zu kennen, könne er keine Therapie verschreiben, es gebe keine Hilfe, höchstens die Hoffnung, dass das Augenlicht zurückkehren würde, ebenso rätselhaft, wie es verschwunden war.
13
I n den ersten Monaten versuchte Tin Win, sich seine Welt, das Haus, den Garten und die nahen Felder zurückzuerobern. Er saß oft Stunden im Garten, am Zaun, auf dem Stumpf der Pinie, unter dem Avocadobaum oder vor den Mohnblumen und versuchte herauszufinden, ob jeder Ort, jeder Baum seinen eigenen unverwechselbaren Geruch hatte, so wie ein Mensch. Roch der Garten hinter dem Haus anders als davor?
Tin Win schritt die Wege ab, kalkulierte Entfernungen und entwarf in seinem Kopf Karten, auf denen alles, was seine Füße und Hände ertasteten, jeder Busch, jeder Baum, jeder Stein, eingezeichnet war. Er wollte sie speichern, sie sollten ihm die Augen ersetzen, mit ihrer Hilfe wollte er Ordnung bringen in den undurchsichtigen Nebel, der ihn umgab.
Es funktionierte nicht.
Am nächsten Tag war nichts mehr dort, wo er es erinnerte. Als hätte jemand über Nacht in einem Zimmer die Möbel umgeräumt. Nichts in dieser Welt hatte seinen festen Platz, alles war in Bewegung, wahllos und unberechenbar.
Der Arzt hatte Su Kyi versichert, dass mit der Zeit die anderen Sinnesorgane die Arbeit der Augen übernehmen würden. Blinde Menschen würden lernen, sich ihren Ohren, ihrer Nase und ihren Händen anzuvertrauen, und sich deshalb nach einer Phase der Anpassung und Eingewöhnung in ihrer Umgebung gut zurechtfinden, behauptete der Doktor.
Das Gegenteil war der Fall. Tin Win stolperte über Steine, die er seit Jahren kannte, er prallte gegen Bäume und Äste, auf denen er früher herumgeklettert war. Selbst im Haus lief er gegen Türpfosten und Wände. Zweimal wäre er in die Feuerstelle gerannt, hätten ihn Su Kyis Schreie nicht rechtzeitig gewarnt.
Als sie ihn einige Wochen später zum ersten Mal wieder mit ins Dorf nahm, hätte ihn fast ein Auto überfahren. Er stand am Straßenrand und hörte das Geräusch des näher kommenden Motors, er hörte Stimmen und Schritte und das Schnauben eines Pferdes, er hörte Vögel und Hühner und das Kacken eines Ochsen, und nichts davon machte Sinn oder gab ihm einen Hinweis, wohin er zu gehen oder worauf er zu achten hätte. Er traute seinem Gehör genauso wenig wie seiner Nase, wenn es nach Feuer roch, oder seinen Händen, wenn sie ein Hindernis ertasteten.
Es verging kaum ein Tag ohne aufgeschlagene Knie, blaue Flecken, Beulen am Kopf oder Schürfwunden an Händen und Ellenbogen.
Besonders schlimm war es in der Schule bei den Nonnen und dem Pater aus Italien. Obwohl er seit seiner Erblindung in der ersten Reihe sitzen durfte und sie sich häufig vergewisserten, ob er auch folgen könne, verstand er immer weniger von dem, was sie sagten. In ihrer Gegenwart fühlte er sich einsamer denn je. Er hörte ihre Stimmen und spürte ihren Atem, aber er sah sie nicht. Sie standen neben ihm, eine Armlänge oder eine Handbreit entfernt, und waren doch unerreichbar.
Die Nähe anderer Kinder war noch unerträglicher. Ihre Stimmen machten ihm Angst, und ihr Lachen klang noch abends, wenn er im Bett lag, in seinen Ohren. Wenn sie auf dem Hof neben der Kirche herumrannten und tobten und spielten, saß er auf einer Bank unter dem Kirschbaum und fühlte sich gefesselt, und mit jedem Schritt, den er hörte, jedem Rufen, jedem noch so unbedeutenden Ausdruck von Freude, spürte er, wie die Fesseln enger wurden.
Su Kyi war sich nicht sicher, ob die Welt tatsächlich vor seinen Augen versunken war oder ob Tin Win sich nicht einfach nur noch weiter verkrochen hatte. Und wenn dem so wäre, wie weit würde er den
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