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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Rückzug treiben? Würden mit der Zeit auch seine Ohren ihren Dienst versagen, die Nase, würden seine zarten, schlanken Finger nichts mehr spüren, zu tauben und nutzlosen Gliedmaßen verkommen?
    Er war stark, viel stärker als er selber es wusste oder sein dürrer Kinderkörper verriet, das hatte sie gelernt in den vergangenen Jahren, und er hatte die Kraft, sich bis ans Ende der Welt zurückzuziehen, daran zweifelte sie nicht. Wenn er wollte, würde sein Herz aufhören zu schlagen, so wie die Augen aufgehört hatten zu sehen, und im tiefsten Inneren ihrer Seele ahnte sie, dass er so und nicht anders sein Leben eines Tages beenden würde. Aber dazu, fand Su Kyi, war es viel zu früh. Erst einmal sollte er es leben.
    14
    U Ba schwieg.
    Wie lange hatte er erzählt? Drei Stunden? Vier, fünf? Ich hatte meine Augen nicht von ihm abgewandt und bemerkte erst jetzt, dass an den anderen Tischen niemand mehr saß. Es war still, ich hörte nichts als das Schnarchen eines Mannes, der hinter der Glasvitrine mit den Keksen saß. Es klang wie das leise Zischen eines Dampfkessels. Die Lampen im Lokal waren ausgeschaltet, nur auf unserem Tisch brannten zwei Kerzen.
    Ich spürte, wie ich zitterte.
    Die Kälte, dachte ich.
    »Sie trauen mir nicht, Julia?«, fragte U Ba.
    »Ich glaube nicht an Märchen«, antwortete ich.
    »Haben Sie ein Märchen gehört?«
    »Wenn Sie so viel von mir wissen und mich so gut kennen, wie Sie behaupten, darf es Sie nicht überraschen, dass ich nicht an Magie oder überirdische Kräfte glaube. Nicht einmal an einen Gott oder irgendeine höhere Gewalt, erst recht nicht an Sternenkonstellationen, die unser Schicksal bestimmen oder beeinflussen. Menschen, die ihr Kind nicht annehmen können, weil bei der Geburt die Sterne schlecht standen, müssen krank sein.«
    Ich atmete tief durch. Etwas hatte mich wütend gemacht, ich wusste nicht, ob es U Ba war, den anscheinend nichts aus der Ruhe brachte, oder diese Geschichte, mit der ich nichts anfangen konnte. Ich versuchte mich zu beruhigen, ich wollte nicht, dass er meinen Ärger bemerkte.
    Er nickte. »Sie sind weit gereist, Julia, ich bin seit meiner Jugend aus unserem Dorf selten herausgekommen und wenn, dann führte mich mein Weg nie weiter als nach Taunggyi, unserer kleinen Provinzhauptstadt, eine Tagestour mit dem Pferdewagen. Meine letzte Exkursion liegt schon Jahre zurück. Sie haben die Welt gesehen, Julia, wer bin ich, Ihnen zu widersprechen?«
    Seine Demut machte mich nur noch wütender.
    »Wenn Sie es sagen«, fuhr er fort, »glaube ich gern, dass es in Ihrer Welt keine Mütter und Väter gibt, die ihre Kinder nicht lieben können, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht ist das ein Verhalten von dummen, ungebildeten Menschen, ein weiterer Beweis unserer Rückständigkeit, wofür ich Sie nur immer wieder um Verzeihung bitten kann.«
    »Das habe ich nicht behauptet, aber die Sterne spielen bei uns keine Rolle.«
    »Macht das einen Unterschied?«, fragte er, blickte mich an und verstummte. Er musste meinen Ärger gespürt haben und wollte keinen Streit.
    »Ich bin nicht zehntausend Kilometer gereist, um Märchen zu hören. Ich bin auf der Suche nach meinem Vater.«
    »Haben Sie noch etwas Geduld«, bat er.
    »Warum? Weshalb soll ich mich gedulden, worauf warten? Dass Sie mir weiter Geschichten erzählen, die Jahrzehnte zurückliegen?«
    »Es ist die Geschichte Ihres Vaters.«
    »Das behaupten Sie. Wo sind Ihre Beweise? Wäre er in seinem Leben wirklich einmal blind gewesen, hätten wir, seine Familie, etwas davon gewusst. Er hätte uns davon erzählt.«
    »Sind Sie sicher, Julia?«
    Er wusste, dass ich mir nicht sicher war. Warum quälte er mich? Meine Unsicherheit, meine Zweifel, ob ich meinen Vater überhaupt kannte oder ob er mir dreiundzwanzig Jahre etwas vorgelogen hatte, waren der einzige Grund, warum ich seinen Erzählungen so lange zugehört hatte und auch weiter zuhören würde. Doch das wollte ich weder wirklich wahrhaben noch zugeben.
    »Und selbst wenn er uns nichts davon gesagt hätte: Was hat dieser kleine, ungeliebte, verkümmerte Junge mit meinem Vater zu tun? Nichts. Überhaupt nichts.« Ich erklärte ihm, dass ich von Rückblicken und Nabelschauen nichts hielte, dass ich vermutlich zu den wenigen New Yorkern gehören würde, die noch nie bei einem Therapeuten waren, dass ich kein Mensch sei, der die Ursachen all seiner Probleme in seiner Kindheit suchte, und dass ich keinen Respekt hätte vor Menschen, die das täten. Ich

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