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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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schließlich.
    »Ich weiß. Ich habe dich schon oft gesehen.«
    Eine laute Frauenstimme unterbrach sie. »Mi Mi, wo steckst du?«
    »In der Halle, Mama.«
    »Wir müssen nach Hause.«
    »Ich komme schon.«
    Tin Win merkte, dass sie sich aufrichtete, aber nicht aufstand, ihre Hand ausstreckte und ihm einmal kurz über die Wange strich.
    »Ich muss fort, bis bald«, sagte sie, und er hörte, wie sie sich entfernte. Sie ging nicht. Sie kroch auf allen Vieren davon.
    5
    T in Win saß auf dem Boden, die Beine an den Körper gezogen, den Kopf auf den Knien. Am liebsten wäre er den Rest des Tages sitzen geblieben und die Nacht und den nächsten Tag. Als könnte jede Bewegung zerstören, was er erlebt hatte. Mi Mi war fort, aber das Pochen ihres Herzens war bei ihm geblieben, er erinnerte es, er hörte es, als säße sie neben ihm. Was war mit den anderen Tönen und Lauten? Er hob den Kopf, drehte ihn von einer Seite zur anderen und hörte sich um. Es raschelte noch immer leise auf dem Dach, es zirpte weiter an der Wand und schmatzte im Holz. Das Schnaufen der Wasserbüffel auf den Feldern, das Gelächter der Gäste in den Teehäusern – Tin Win war sich sicher, dass er es deutlich hörte. Er stand vorsichtig auf und konnte es kaum glauben: Er hatte die Gabe des Hörens nicht wieder verloren. Die Geräusche, ob vertraut oder fremd, waren noch da, manche lauter, andere leiser, aber an ihrer Kraft und ihrer Intensität hatte sich nichts geändert. Würde er sich damit in der Welt besser zurechtfinden?
    Tin Win ging zur Tür, stieg die Verandatreppe hinunter und lief über den Hof. Er wollte durch den Ort gehen, die Hauptstraße auf und ab, er wollte das Dorf erkunden, es sich erhören. Aus allen Richtungen flogen ihm neue, unbekannte Geräusche zu. Es pochte, bollerte, knisterte und raschelte, es zischte und gluckste, quietschte und krächzte, ohne dass ihm diese Flut von Eindrücken Angst gemacht hätte. Er merkte, dass Ohren kaum anders funktionierten als Augen. Er erinnerte sich, wie er früher auf den Wald geblickt hatte und dabei Dutzende von Bäumen mit ihren Hunderten von Ästen und Tausenden von Nadeln und Blättern gleichzeitig sah, und dazu auch noch die Wiese davor mit ihren Blumen und Büschen, und das alles ihn dennoch nicht im Geringsten verwirrte. Die Augen konzentrierten sich nur auf einige Details des Bildes, der Rest befand sich am Rand. Aber mit einer winzigen Bewegung der Pupillen konnte er den Fokus verändern und neue Details betrachten, ohne dass deshalb die anderen im Nichts verschwunden wären. Genauso erging es ihm jetzt. Er vernahm eine solche Vielzahl von Geräuschen, dass er sie nicht zu zählen vermochte, aber sie verschmolzen nicht. So wie er früher seinen Blick auf einen Grashalm, eine Blüte oder einen Vogel gerichtet hatte, so konnte er nun seine Ohren auf einen bestimmten Laut lenken, ihn sich in Ruhe anhören und immer neue Töne darin entdecken.
    Er ging an der Klostermauer entlang, blieb immer wieder stehen und horchte. Er konnte nicht genug bekommen von all den Geräuschen, die in der Luft lagen. Aus einem Haus auf der anderen Seite der Straße hörte er das Lodern eines Feuers. Jemand schälte und hackte Knoblauch und Ingwer in winzige Stückchen, schnitt Frühlingszwiebeln und Tomaten, schüttete Reis in kochendes Wasser. Er kannte diese Laute von zu Hause, wenn Su Kyi kochte, er hörte sie deutlich, obgleich das Haus mindestens fünfzig Meter entfernt sein musste; und in seinem Kopf entstand das Bild einer jungen, schwitzenden Frau in ihrer Küche, wie es seine Augen deutlicher nicht hätten sehen können.
    Neben ihm schnaufte ein Pferd, und ein Mann spuckte den Saft zerkauter Betelnüsse auf die Straße. Was war mit den vielen anderen Geräuschen, die er vernahm? Dem melodischen Ziepen, dem Knirschen und Räuspern? Selbst wenn er die Art des Tons erkannte, wusste er nicht, zu wem oder was er gehörte. Er hörte das Knacken eines Zweiges, aber war es der Ast einer Pinie, eines Avocadobaumes, einer Feige oder einer Bougainvillea, der zerbrach? Und das Rascheln zu seinen Füßen? War es eine Schlange, eine Maus, ein Käfer oder etwas, von dem er sich nicht einmal vorstellen konnte, dass es einen Laut von sich gab? Tin Win begriff, dass ihm seine außergewöhnliche Fähigkeit allein nicht viel nützte. Er brauchte Hilfe. Diese Töne waren wie Vokabeln einer neuen Sprache, die er erst lernen musste, um zu verstehen, was die Welt ihm erzählte. Er brauchte einen Übersetzer, einen

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