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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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etwas weiter«, dirigierte er sie.
    Sie ging weiter, fast bis zum Gartenzaun, kniete sich auf die Erde und sagte kein Wort.
    »Hörst du es jetzt?« Das war keine Frage, es war eine Bitte, und sie hätte sie ihm um ihr Leben gern erfüllt. Aber sie hörte nichts.
    »Nein.«
    »Was siehst du?«
    »Unseren Zaun. Gras. Erde. Blumen. Nichts, was einen schlürfenden Ton von sich geben könnte.« Sie blickte auf die gelben Orchideen und auf die Biene, die aus einer der Blüten kroch, und stand wieder auf.
    6
    D er Sand bedeckte sein Gesicht, er spürte ihn auf den Lippen und zwischen den Zähnen. Tin Win lag im Straßenstaub und fühlte sich so hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Ihm war zum Weinen zu Mute. Nicht, weil er sich wirklich wehgetan hätte, mehr aus Scham und Wut. Heute wollte er zum ersten Mal allein vom Kloster nach Hause gehen, er hatte Su Kyi gesagt, sie solle ihn nicht abholen. Er war sich sicher gewesen, dass er den Weg auch ohne sie finden würde. Nach all den Jahren.
    Er wusste nicht, ob er über einen Stein, eine Wurzel oder ein Loch, das der Regen in die Erde gespült hatte, gestolpert war, er wusste nur, dass er den dümmsten aller Fehler begangen hatte: Er hatte sich zu sicher gefühlt. Er hatte nicht Acht gegeben. Er hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt, ohne sich zu konzentrieren, ohne bei der Sache zu sein. Er wusste nicht, ob die Sehenden wirklich mehrere Dinge gleichzeitig und mit gebührender Sorgfalt machen konnten oder ob sie es nur behaupteten, er wusste nur, dass er es nicht konnte. Zudem war er auch noch verärgert gewesen, und dieses Gefühl brachte seit jeher Unordnung in seine Welt. U May hatte Recht. Wut und Angst machen blind und taub. Sie verwirrten ihm jedes Mal aufs Neue die Sinne, ließen ihn stolpern oder gegen Bäume und Wände laufen. Tin Win erhob sich, wischte sich mit dem Longy den Dreck aus dem Gesicht und ging weiter. Seine Bewegungen waren unsicher, er blieb stehen nach jedem Schritt und ertastete mit seinem Stock den Weg. Als durchquere er feindliches Territorium.
    Er wollte nach Hause, so schnell wie möglich. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich von seinen Ohren leiten zu lassen, den Ort weiter zu erkunden, neue Geräusche zu entdecken und ihnen nachzuspüren, ja, vielleicht sogar so wagemutig zu sein und über den Markt zu gehen, von dem Su Kyi so oft erzählt hatte. Nun empfand er die Geräuschkulisse, die ihn umgab, nur noch als etwas Bedrohliches. Es zirpte, zischte, knirschte und knatterte, und jeder einzelne Ton machte ihm Angst. Das Kläffen der Hunde ließ ihn zusammenfahren. Er fühlte sich eingeschüchtert vom Geplapper und Gemurmel der Passanten, das mit jedem Schritt lauter wurde.
    Er war auf der Flucht, und am liebsten wäre er gerannt, so schnell er konnte. Stattdessen musste er sich vorantasten, Schritt für Schritt die Mauer entlangkriechen, die Hauptstraße hinunterschleichen und sich dabei an seinen Stock klammern wie ein Schiffbrüchiger an eine Planke. Er bog nach rechts ab und merkte, dass die Steigung begann. Plötzlich rief eine fremde Stimme seinen Namen.
    »Tin Win. Tin Win.«
    Er atmete tief durch, versuchte, sich zu konzentrieren.
    »Tin Win.«
    Allmählich kam ihm der Klang bekannt vor.
    »Mi Mi?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Was machst du hier?«
    »Ich sitze neben der kleinen weißen Pagode und warte auf meinen Bruder.«
    »Wo ist er?«
    »Wir verkaufen jede Woche auf dem Markt Kartoffeln. Jetzt bringt er einer kranken Tante, die auf dem Hügel wohnt, Reis und ein Huhn. Er holt mich nachher wieder ab.«
    Tin Win tastete sich vorsichtig zur Pagode vor. Er war auf dem Weg so oft gestolpert, als hätte man ihm fortwährend Steine und Stöcke vor die Füße geworfen, und so konnte er nur hoffen, dass ihm die Schmach erspart bliebe, vor Mi Mis Augen in den Dreck zu fallen. Er hörte am Klang seines Stockes, dass er die Pagode erreicht hatte, und setzte sich neben sie. Dann hörte er ihr Herz pochen, und mit jedem Schlag wurde er ruhiger. Einen schöneren Laut konnte er sich nicht vorstellen. Es klang anders als die anderen Herzen, weicher, melodisch. Es schlug nicht, es sang.
    »Dein Hemd und dein Longy sind schmutzig. Bist du hingefallen?«, fragte sie.
    »Ja. Es ist nicht schlimm.«
    »Hast du dir wehgetan?«
    »Nein.«
    Tin Win fühlte sich wieder sicherer. Langsam kehrte jeder Stein auf seinen Platz zurück, schrumpfte jedes Geräusch auf seine eigentliche Lautstärke. Mi Mi rückte etwas näher an ihn heran. Ihr Geruch erinnerte ihn an

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