Herzenhören
den Duft der Pinien nach dem ersten Schauer zu Beginn der Regenzeit. Süß, aber nicht schwer, ganz fein, als bestünde er aus vielen hauchdünnen Schichten. Früher hatte er sich nach dem ersten Regen immer auf den Waldboden gelegt, sich voll gesogen mit diesem Duft und so lange tief ein- und ausgeatmet, bis ihm schwindlig wurde.
Sie schwiegen eine Weile, und Tin Win wagte es, wieder zu horchen. Er hörte eine Art leises Trommeln oder Tropfen. Es kam von der anderen Seite der Pagode. Sollte er Mi Mi fragen, ob sie es auch hörte? Und wenn ja, ob sie nachschauen könnte, was es war, so dass er es in Zukunft zuordnen könnte. Er zögerte. Und wenn sie nichts hörte und nichts sah? Dann würde er sich noch einsamer fühlen, so wie gestern mit Su Kyi. Außerdem wollte er sich vor Mi Mi nicht lächerlich machen. Am liebsten hätte er nicht gefragt, aber die Versuchung war zu groß. Er beschloss, sich von Frage zu Frage voranzutasten, je nachdem was und wie sie antworten würde.
»Hörst du es tropfen?«, fragte er vorsichtig.
»Nein.«
»Vielleicht ist es kein Tropfen. Es klingt mehr wie ein ganz feines Hämmern.« Er schlug mit einem Fingernagel ganz schnell auf seinen Stock. »Ungefähr so.«
»Ich höre nichts.«
»Könntest du für mich einmal hinter die Pagode schauen?«
»Da sind nur Büsche.«
»Und in den Büschen?« Tin Win fiel es schwer, seine Aufregung zu verbergen. Wenn sie ihm doch helfen könnte, wenigstens dieses eine Rätsel zu lösen.
Mi Mi drehte sich um und kroch hinter den kleinen Tempel. Dort wuchs dichtes Gestrüpp, und die spitzen Zweige zerkratzten ihr Gesicht. Sie konnte nichts entdecken, was ein Geräusch machte, wie Tin Win es beschrieb. Ein Vogelnest war alles, was sie sah. »Hier ist nichts.«
»Sag mir genau, was du siehst«, bat Tin Win.
»Äste. Blätter. Ein altes Vogelnest.«
Tin Win überlegte. »Was ist in dem Nest?«
»Ich weiß es nicht, aber es sieht verlassen aus.«
»Das Geräusch kommt bestimmt aus dem Nest. Kannst du nachschauen?«
»Das geht nicht. Es ist zu hoch. Ich kann mich hier nicht aufrichten.«
Warum stellte sie sich nicht hin und schaute nach, was im Nest lag? Er war so kurz davor, ein Blick würde genügen, ein kurzer Blick nur, und er hätte Gewissheit, ob er seinen Ohren trauen konnte.
Sie kam wieder um die Ecke gekrochen. »Was soll da drin sein?«
Er schwieg. Würde sie ihm glauben? Würde sie ihn auslachen? Hatte er eine Wahl?
»Ein Ei. Ich glaube, das Trommeln ist der Herzschlag eines Kükens.«
Mi Mi lachte. »Du machst Spaß. So hellhörig ist kein Mensch.«
Tin Win schwieg. Was sollte er darauf antworten.
»Wenn du mir hilfst, kann ich nachsehen, ob du Recht hast«, sagte Mi Mi nach einer Pause. »Kannst du mich auf deinem Rücken tragen?«
Tin Win ging in die Hocke, und Mi Mi legte ihre Arme um seinen Hals. Tin Win richtete sich langsam auf. Er stand unruhig und wankte hin und her.
»Bin ich zu schwer?«, fragte sie.
»Nein, gar nicht.« Es waren nicht die Pfunde. Es war das ungewohnte Gefühl, das Gewicht eines Menschen auf dem Rücken zu spüren, das ihn verunsicherte. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften, und er verschränkte beide Arme hinter dem Rücken, um ihr mehr Halt zu geben. Nun hatte er keine Hand frei für seinen Stock, und er kannte den Boden vor sich nicht. Seine Knie wurden weich.
»Keine Angst. Ich leite dich.« Sie hatte seine Aufregung gespürt.
Tin Win machte einen kleinen Schritt.
»Gut. Und noch einen. Vorsicht, gleich kommt ein Stein, erschrick nicht.«
Tin Win tastete mit dem linken Fuß nach dem Stein, befühlte ihn und setzte den Fuß auf die Erde dahinter. Mi Mi dirigierte ihn um den kleinen Tempel herum. Mit einer Hand versuchte sie, ihm die Zweige aus dem Gesicht zu halten.
»Da ist es. Noch einen Schritt. Noch einen.« Er fühlte, wie sie sich mit ihren Händen auf seine Schultern stützte, sich reckte und nach vorn beugte. Sein Herz raste, und nur mit Mühe konnte er das Gleichgewicht halten.
»Eines. Nicht groß.«
»Bist du sicher?«
Tin Win gab sich keine Mühe, seine Freude zu verbergen. Sie hockten wieder am Straßenrand, und er konnte kaum still sitzen. Mi Mi hatte die Tür einen Spaltbreit geöffnet, sie hatte einen Lichtstrahl in seine Dunkelheit gelassen, und am liebsten wäre er mit ihr losgelaufen, jetzt und sofort. Hätte jedem Ton, jedem Laut, jedem Geräusch, das er finden konnte, nachgespürt. Er hatte seine erste Vokabel gelernt. Er wusste nun, wie das Herzpochen von
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