Herzenhören
Menschen, der mit ihm auf Entdeckungsreisen gehen, ihn mit dem Leben vertraut machen würde. Es müsste jemand sein, der Geduld hatte und ihn nicht auslachte, wenn er sagte, er höre ein Herz pochen. Ein Mensch, dem er vertrauen, dem er sich ausliefern konnte, der ihm die Wahrheit sagen würde und keinen Spaß daran hätte, ihn in die Irre zu führen. Su Kyi, wer sonst, würde ihm helfen.
Er war nun auf der Hauptstraße angelangt, und das Erste, was ihm auffiel, war ein fortwährendes Pochen, das ihn umgab. Es waren die Herzen der Leute, die an ihm vorbeiliefen. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass kein Herz wie das andere klang, so wenig wie zwei Stimmen identisch sind. Manche klangen hell und leicht wie Kinderstimmen, andere schlugen wild wie ein hämmernder Specht. Es gab welche, die glichen dem aufgeregten Piepen eines ganz jungen Kükens, und solche, die pochten so ruhig und gleichmäßig, dass sie ihn an die Wanduhr erinnerten, die Su Kyi im Haus des Onkels jeden Abend aufzog.
»Tin Win, was machst du allein auf der Hauptstraße?« Es war Su Kyi, die ihn abholen wollte. Sie war erschrocken, er hörte es an ihrer Stimme.
»Ich wollte dir entgegenkommen und an der Ecke auf dich warten«, antwortete er.
Sie nahm seine Hand, und sie gingen die Straße hinunter, an den Teehäusern und der Moschee vorbei, bogen hinter einer kleinen Pagode ab und stiegen langsam den Hügel hinauf, auf dem sie wohnten. Su Kyi erzählte ihm etwas, aber Tin Win achtete nicht auf ihre Worte, er hörte auf ihr Herz. Zunächst klang es fremd, es schlug unregelmäßig, ein heller Ton folgte einem dunklen, und der Gegensatz zur vertrauten Stimme verwirrte ihn. Nach ein paar Minuten jedoch hatte er sich an dieses Pochen gewöhnt und fand, dass es sowohl zu Su Kyi, deren Launen und Stimmungen zuweilen abrupt umschlugen, als auch zu ihrer Stimme passte.
Zu Hause angekommen, konnte er es kaum erwarten, Su Kyi um ihre Hilfe zu bitten. Er setzte sich auf einen Hocker in die Küche und lauschte. Er hörte Su Kyi vor der Tür Holz hacken. Um sie herum liefen gackernde Hühner. Die Pinien wiegten sich im Wind. Ein paar Vögel sangen. Geräusche, die er kannte und einordnen konnte. Dann fiel ihm ein leises Rascheln auf, oder war es mehr ein Summen, ein merkwürdiges Ziepen? War es ein Käfer, eine Biene? Wenn Su Kyi für ihn die Quelle dieses Lautes entdecken könnte, hätte er seine erste neue Vokabel gelernt.
»Su Kyi, komm, bitte«, rief er aufgeregt.
Sie legte das Beil weg und kam in die Küche. »Was möchtest du?«
»Erkennst du dieses Summen?«
Beide schwiegen und horchten. Er hörte es an ihrem Herzschlag, wie sie sich anstrengte und konzentrierte, es pochte etwas schneller und kräftiger. So wie vor ein paar Minuten, als sie bergauf gingen.
»Ich höre kein Summen.«
»Es kommt von da oben, dort, über der Tür. Siehst du da etwas?«
Su Kyi ging zur Tür und starrte an die Decke. »Nein.«
»Schau genau hin. Was ist da?«
»Nichts außer Holzlatten und Staub und Dreck. Was soll da sein?«
»Ich weiß es nicht, aber von dort kommt dieses Geräusch. Aus der Ecke, glaube ich, wo die Wand an das Dach stößt.«
Su Kyi betrachtete die Wand genauer. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Kannst du dir einen Hocker holen? Vielleicht siehst du dann besser?«
Sie stieg auf einen Hocker und musterte das alte Holz. Zugegeben, ihre Augen waren nicht mehr die besten, und Gegenstände direkt vor ihrer Nase büßten zunehmend ihre Konturen ein, aber so viel konnte sie deutlich erkennen: In dieser schmutzigen Ecke ihrer Küche gab es beim besten Willen nichts, was summte oder sonst irgendeine Art von Geräusch verursachte. Eine fette Spinne saß da und spann an ihrem Netz. Das war alles.
»Hier ist nichts. Glaub mir.«
Tin Win stand auf. Er war verunsichert. Sollte er Su Kyi oder seinen Sinnen trauen?
»Kommst du mit auf den Hof«, bat er sie.
Sie standen vor der Hütte, er nahm ihre Hand und versuchte, sich auf einen Laut zu konzentrieren, der ihm nicht vertraut war: ein saugendes, schlürfendes Geräusch.
»Hörst du es schlürfen, Su Kyi?«
Sie wusste, wie wichtig es ihm war, dass auch sie es hörte. Aber sie hörte niemanden etwas trinken oder schlürfen.
»Wir sind allein, Tin Win. Niemand trinkt auf unserem Hof etwas.«
»Ich sage nicht, dass jemand etwas trinkt. Ich höre ein Geräusch, das klingt wie Saugen oder Schlürfen. Es ist nicht weit weg von uns.«
Su Kyi machte ein paar Schritte.
»Weiter, noch
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