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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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kaum, seine Tochter zu berühren. Er hielt sie am liebsten am ausgestreckten Arm und verbot seinen Söhnen, ihr zu nahe zu kommen. Bis seine Frau ihn eines Abends anschnauzte: »Verkrüppelte Füße sind nicht ansteckend.«
    »Ich weiß, ich weiß«, versuchte er abzuwiegeln.
    »Warum hast du dir deine Tochter dann in bald einem Jahr nicht einmal angeschaut?«, rief sie wütend und riss Mi Mi mit ein paar schnellen Handbewegungen die Tücher vom Leib.
    »Warum?«
    Moe schaute abwechselnd auf seine Tochter und auf seine Frau. Mi Mi lag nackt vor ihm. Es war kalt, ein Schauer überlief sie, aber sie schrie nicht, sondern blickte ihn erwartungsvoll an.
    »Warum?«, wiederholte Yadana.
    Er streckte seine Arme aus und berührte den kleinen Bauch. Er streichelte über die dünnen Schenkel, die Knie, seine Finger glitten hinunter, bis er die Füßchen in den Händen hielt. Mi Mi lächelte ihn an.
    Ihre Augen erinnerten ihn an den Blick seiner Frau, als er ihr zum ersten Mal begegnete, und auch ihr Lächeln hatte diesen Zauber, dem er bis heute nicht widerstehen konnte. Moe schämte sich.
    Yadana hüllte ihr Kind wieder in die Tücher, entblößte ihre Brust und stillte Mi Mi.
    Bald war Moe klar, dass seine Tochter nicht nur die schönen Augen ihrer Mutter geerbt hatte, sondern auch deren zufriedenes, ausgeglichenes und fröhliches Wesen. Sie weinte nie, schrie selten, schlief die Nächte durch und machte auf ihn den Eindruck eines Menschen, der im Einklang mit sich und der Welt lebte.
    Daran änderte sich auch nichts, als sie sich nach gut einem Jahr zum ersten Mal aufrichten wollte. Sie war zum Geländer der kleinen Veranda vor dem Haus gekrabbelt. Moe und Yadana standen im Hof, fütterten die Hühner und die Sau und sahen, wie ihre Tochter sich an den Gitterstäben der Brüstung hochzog. Wie sie versuchte, sich auf ihre nach innen gewachsenen Füße zu stellen, wie sie für einen kurzen Augenblick stand, erschrocken ihre Eltern anstarrte und dann umfiel. Sie versuchte es noch einmal und noch einmal, und Moe wollte zu ihr eilen, ihr helfen, ohne zu wissen wie. Yadana hielt ihn fest. »Ihre Füße tragen sie nicht. Sie muss es lernen«, sagte sie und wusste, dass niemand ihrer Tochter das abnehmen konnte.
    Mi Mi weinte nicht. Sie rieb sich die Augen und musterte das Geländer, als läge es an den Holzstangen. Sie versuchte es wieder und bemühte sich, die Balance zu halten. Nachdem sie aber auch beim sechsten Mal wieder auf den Brettern gelandet war, gab sie auf, kroch zur Treppe, setzte sich auf, schaute ihre Eltern an und lächelte. Es war das erste und einzige Mal, dass sie versuchte, aufzustehen und einen Schritt zu machen. Fortan eroberte sie das Haus und den Hof auf allen vieren. Sie krabbelte die Verandatreppe so flink hinauf und hinunter, dass ihre Eltern ihr kaum folgen konnten. Sie jagte den Hühnern hinterher und liebte es, an heißen Sommertagen, wenn ein Regenschauer die Erde im Hof aufgeweicht hatte, im Matsch zu wühlen. Sie spielte mit ihren Brüdern Fangen und Verstecken und kroch dabei in die entlegensten Winkel des Hofes, in denen sie selten jemand fand.
    Wie es schien, verlor Mi Mi ihren Gleichmut auch später nicht, als sie begriff, wie nützlich Füße sind. Als sie auf der Veranda saß und beobachtete, wie die Nachbarskinder über den Hof tobten oder auf den wuchtigen Eukalyptusbaum kletterten, der die Grundstücke trennte. Yadana hatte das Gefühl, dass ihre Tochter die Grenzen akzeptierte, die die Natur ihr gesetzt hatte, was allerdings nicht bedeutete, dass sie sich vom Leben abwandte und zurückzog, im Gegenteil. Ihre Bewegungsfreiheit war eingeschränkt, ihre Neugierde hingegen und ihre Talente in anderen Dingen des Lebens kannten oft keine Grenzen.
    Am erstaunlichsten war ihre Stimme. Als Säugling verbrachte Mi Mi die meiste Zeit festgebunden auf dem Rücken ihrer Mutter, und Yadana hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihrer Tochter während der Feldarbeit etwas vorzusingen. Bald konnte Mi Mi die meisten Lieder auswendig, und Mutter und Tochter sangen im Chor. Mi Mis Stimme wurde immer schöner, und wenn abends dann die Siebenjährige ihrer Mutter beim Kochen half und dabei sang, versammelten sich die Nachbarn vor dem Haus, hockten sich auf die Erde und lauschten schweigend. Von Woche zu Woche wurden es mehr, bald füllten sie den ganzen Hof, standen auf dem Weg, der am Haus vorbeiführt, und saßen auch noch in den Wipfeln der Bäume, die das Grundstück umgaben. Die Abergläubischsten unter

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