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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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ihnen behaupteten sogar, dass Mi Mis Stimme magische Kräfte besäße. Sie erzählten gern die Geschichte von der alten, kranken Witwe, die in Hörweite wohnte und zwei Jahre ihre Hütte nicht verlassen hatte, und die sich eines Tages in der Dämmerung unter das Publikum mischte und zu tanzen begann. Nur dem Eingreifen Moes war es zu verdanken, dass sie sich nicht auch noch entkleidete. Oder der Junge, der in einer Hütte auf der anderen Seite des Weges lebte und den sie den Fisch nannten. Seine Haut war trocken und über und über mit weißen Flechten und Schuppen bedeckt; keine sechs Monate, nachdem Mi Mis Gesang zum ersten Mal durch die Abenddämmerung klang, war auch die letzte Pustel verschwunden.
    Auf dem Markt, wo sie mit ihrer Mutter Kartoffeln und Reis verkaufte, verursachten ihre Lieder einen solchen Menschenauflauf, dass zwei Polizisten kamen und sie baten, mit dem Singen aufzuhören. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ein irischer Trunkenbold, der es in der Armee ihrer Majestät immerhin zu einem Major gebracht hatte und nun in Kalaw seinen Lebensabend verbrachte, wünschte sich, dass sie auf seinem Totenbett sänge. Mi Mi wurde zu Hochzeiten und Geburten eingeladen und die Familie im Gegenzug dafür reichlich mit Tee, Hühnern oder Reis belohnt. Gerade als Moe sich ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigte, seine Felder zu verpachten, teilte Mi Mi ihren Eltern mit, dass sie nicht beabsichtige weiterzusingen.
    Sie saßen auf einem Balken im Hof, die Dämmerung war noch nicht angebrochen, aber die Kühle des Abends bereits deutlich zu spüren. Yadana legte eine dicke Jacke um die Schultern ihrer Tochter. Mi Mi zerrieb die Rinde des Thanakhabaumes in einem Mörser, ihre Mutter wusch Tomaten und Frühlingszwiebeln. Das Schwein grunzte unter dem Haus, und der Wasserbüffel schiss direkt vor die Gartenpforte. Es stank bis zu ihnen herüber. Moe glaubte an einen Scherz.
    »Warum willst du nicht mehr singen?«
    »Weil es mir keinen Spaß mehr macht.«
    »Was heißt das, es macht dir keinen Spaß mehr? Was ist passiert?«
    »Nichts ist passiert. Es ist mir zu viel. Es ist nichts Besonderes mehr. Es macht keinen Spaß.«
    »Aber deine Stimme klingt mit jedem Tag schöner.«
    »Vielleicht, nur ich mag sie nicht mehr. Ich kann sie nicht mehr hören.«
    »Du meinst, du willst nie wieder singen?«
    »Ich möchte mir meine Stimme bewahren, ich möchte sie mir aufheben. Eines Tages werde ich wieder singen.«
    »Aufheben? Wofür?« Moe war voller Misstrauen.
    »Das weiß ich nicht. Wenn es so weit ist, werde ich es merken.«
    Moe wusste, dass es zwecklos war, mit seiner Tochter zu streiten. Sie hatte die Sturheit ihrer Mutter; es kam selten vor, dass sie auf etwas beharrte, aber wenn sie sich zu etwas entschlossen hatte, war es unmöglich, sie davon wieder abzubringen. Insgeheim bewunderte er sie dafür.
    Moe und Yadana blickten ihre Tochter an, und in ihren Augen lag Wehmut. Es war vor allem Yadana bewusst, wie sehr sich Mi Mi in letzter Zeit verändert hatte. Sie war gerade vierzehn geworden, und ihr Körper nahm langsam die Formen einer jungen Frau an. Nicht nur ihre Stimme wurde von Tag zu Tag schöner. Zwar beherrschten ihre Augen das Gesicht nicht mehr ganz so stark, aber in ihnen lag noch immer dasselbe Strahlen. Ihre Haut hatte die Farbe von gemahlener Tamarinde, und ihre Hände waren, obschon sie sie zum Abstützen und Fortbewegen brauchte, nicht kräftig, hart oder voller Hornhaut, sie waren lang und schmal. Mit ihren Fingern war sie so geschickt, dass Yadana kaum mit den Augen folgen konnte, wenn Mi Mi ihr beim Kochen half, eine Ingwerwurzel schälte und in kleine Scheiben oder Würfel schnitt. Vor zwei Jahren hatte sie ihr das Weben beigebracht, und es dauerte nicht lange, da hatte Mi Mi ihre Mutter überflügelt. Am meisten jedoch bewunderte Yadana die Sicherheit, mit der sich ihre Tochter bewegte. Früher hatte sie Albträume gehabt. Da sah sie Mi Mi wie ein Tier durch den Dreck oder über den Markt kriechen, während die Passanten sie verspotteten. Manchmal träumte sie noch davon, dass Mi Mi mit dem Zug nach Thazi fahren wollte, auf dem Bahnhof zum Wagon kroch und die Dampflok sich in Bewegung setzte. Mi Mi versuchte schneller und schneller zu kriechen, den Zug erreichte sie nicht.
    Und selbst am Tage ertappte sie sich bei der Vorstellung, wie Mi Mi als erwachsene Frau Gäste in ihrem Haus begrüßen würde: Auf allen Vieren musste sie ihnen entgegenkriechen. Wie beschämend!
    Und nun

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