Herzenhören
Vogelküken klingt, und nach und nach würde er herausfinden, woran er den Flügelschlag eines Schmetterlings erkennen konnte, warum es um ihn herum gluckste, auch wenn kein Wasser in der Nähe war, warum auch bei Windstille ein Rauschen zu vernehmen war. Mit Mi Mis Hilfe würde er ein Rätsel nach dem anderen lösen, und vielleicht würde sich daraus am Ende eine Welt ergeben, in der er sich zurechtfinden konnte. In der er einen Platz hatte.
Wie konnte er Mi Mi danken? Sie hatte ihn nicht ausgelacht. Sie hatte ihm vertraut und an ihn geglaubt. Weshalb nur hatte sie zunächst gezögert, als sie hinter dem Tempel war? »Mi Mi«, fragte Tin Win, »warum wolltest du nicht allein ins Nest schauen?«
Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihre Waden. Noch nie hatte Tin Win so zarte Haut gespürt. Weicher noch als das Moos im Wald, mit dem er früher so gern seine Wangen gestreichelt hatte. Langsam glitten seine Finger ihre Beine hinab zu den Knöcheln, die schlank waren, aber sich plötzlich seltsam verformten. Ihre Füße bewegten sich nicht. Sie waren steif und nach innen gewachsen.
7
Y adana erinnerte die Geburt ihrer Tochter, als wäre es gestern gewesen. Sie nannte sie oft den schönsten Moment ihres Lebens, und das war gewiss nicht gegen die fünf älteren Söhne gerichtet. Vielleicht war es so, weil sie sich eigentlich schon viel zu alt gefühlt hatte für eine weitere Schwangerschaft und sich doch immer ein Mädchen gewünscht hatte. Oder weil sie nun, mit achtunddreißig Jahren, die Geburt und ihr Kind als das empfinden konnte, was sie waren: ein einmaliges und unvergleichliches Geschenk. Vielleicht war es so, weil sie in den neun Monaten, in denen das Kind in ihr heranwuchs, keine körperlichen Beschwerden gehabt hatte und kein Tag vergangen war, an dem sie sich nicht auf dem Feld aufgerichtet, innegehalten, die Augen geschlossen, über ihren Bauch gestrichen und sich gefreut hatte. Nachts lag sie oft wach und fühlte, wie das Kind in ihr gedieh, sich rollte und kugelte oder strampelte und gegen die Bauchdecke klopfte. Es gab für sie keine schöneren Augenblicke. Hätte sie einen Hang zur Sentimentalität gehabt, hätte sie geweint. Oder lag es daran, dass sie den ersten Blick ihrer Tochter aus diesen großen, tiefbraunen, fast schwarzen Augen nicht vergessen konnte? Wie schön sie war! Ihre braune Haut war noch viel weicher als die von Yadanas anderen Kindern. Das Köpfchen war rund und nicht von den Strapazen der Geburt verformt, das Gesicht ebenmäßig. Selbst die Hebamme sagte, sie habe noch nie ein so schönes Neugeborenes in den Händen gehalten. So lag sie in Yadanas Armen und musterte ihre Mutter, die sich in diesem Augenblick noch mehr eins mit ihrem Kind fühlte, als in den neun Monaten zuvor. Und dann lächelte das Kind. Ein Lächeln, wie Yadana es weder vorher noch seitdem je wieder gesehen hatte. Und so war es Moe, ihr Mann, der die verformten Glieder als Erster bemerkte. Er stieß vor Schreck einen kurzen Schrei aus und zeigte seiner Frau die winzigen, verkrüppelten Füße.
»Jedes Kind ist anders«, antwortete sie ihm. Damit war das Thema für Yadana erledigt. Was waren verwachsene Füßchen im Vergleich zu dem Wunder, das auf ihrer Brust lag.
Daran änderten auch die Gerüchte nichts, die in den nächsten Wochen im Dorf kursierten. Ihre Tochter sei die Reinkarnation des Esels eines Schotten, der sich ein paar Monate zuvor beide Vorderläufe gebrochen hatte und erschossen werden musste. Ihr werde kein langes Leben beschert sein, hieß es. Die Nachbarn glaubten, das arme Kind sei der Preis für die guten Ernten, die die Familie in den vergangenen Jahren eingefahren hatte und von deren Erlös sie sich ein Holzhaus auf Stelzen und mit Blechdach hatten bauen können. So viel Glück musste ja bestraft werden. Andere waren sich sicher, dass das Mädchen Unheil über den Ort bringen würde, und es gab so manchen, der hinter vorgehaltener Hand forderte, sie im Wald auszusetzen. Die Familie ihres Mannes bedrängte Yadana, den Rat des Astrologen einzuholen. Er könne mit Sicherheit sagen, welches Leid der Kleinen noch bevorstünde, und ob es nicht besser sei, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Yadana dachte nicht daran. Immer schon hatte sie ihren Instinkten mehr getraut als den Sternen, und ihre Instinkte ließen keine Zweifel zu: Sie hatte ein ganz besonderes Kind mit außergewöhnlichen Fähigkeiten geboren.
Es dauerte fast ein Jahr, bis auch ihr Mann davon überzeugt war. Zunächst wagte er
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