Herzenhören
Körper war angespannt, fast steif. »Tin Win. Tin Win«, rief sie, strich ihm durch das Gesicht und nahm seinen Kopf in ihre Hände. Das beruhigte ihn. Nach ein paar Sekunden sank er langsam zurück auf die Schlafmatte. Dort krümmte er sich, zog die Beine bis an die Brust und schlief weiter, seinen Kopf in ihre Hände gebettet.
Als Su Kyi im Morgengrauen aufwachte, lag Tin Win wimmernd neben ihr. Sie flüsterte seinen Namen, aber er antwortete nicht. Sie schlüpfte in ihren Longy, zog eine Bluse und einen Pullover über den Kopf und legte ihre Decke über ihn. Vielleicht hat er sich erkältet, dachte sie. Er war am Abend erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gekommen, drei junge Männer hatte ihn gebracht. Tin Win hatte schrecklich ausgesehen, verdreckt, blutig, den Kopf voller Schrammen; er hatte nichts gesagt und sich gleich hingelegt.
Sie ging in die Küche und machte Feuer. Die heiße Hühnersuppe von gestern und Reis mit etwas Curry würden ihm gut tun.
Sie hatte das Würgen und Röcheln nicht sofort gehört. Als sie ins Schlafzimmer kam, kniete er vor dem offenen Fenster und erbrach sich, und es klang, als wollte sein Körper mit Gewalt alles wieder los werden, was er jemals zu sich genommen hatte. Der Brechreiz kam in Wellen, und je weniger er ausspuckte, desto heftiger packten sie ihn, und Su Kyi konnte sehen, wie sie am Ende seinen ganzen Körper erfassten. Als müsse er sich für immer entleeren. Bis dann schließlich nur noch grünliche, übel riechende Flüssigkeit aus seinem Mund kam. Sie schleppte ihn zur Schlafstätte zurück und deckte ihn zu. Er tastete nach ihrer Hand. Sie setzte sich neben ihn und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Seine Lippen zuckten. Er atmete schwer.
Tin Win wusste nicht, ob er träumte oder wach lag. Er hatte jedes Gefühl für Zeit oder Raum verloren, seine Sinnesorgane hatten sich nach innen gerichtet. Der Nebel vor seinen Augen war einer unheimlichen Finsternis gewichen. In seiner Nase lag ein säuerlicher Gestank, der Geruch seiner Eingeweide. Seine Ohren vernahmen nichts als die Laute seines Körpers. Das Rauschen des Blutes. Ein Glucksen und Blubbern im Magen, Gurgeln im Darm. Das Herz. Über allem schwebte die Angst. Sie hatte keinen Namen und keine Stimme. Sie war einfach da. Überall. Wie die Luft, die er atmete. Sie beherrschte seinen Körper, sie beherrschte sein Denken und seine Träume. Im Schlaf hörte er das Schlagen von Mi Mis Herz, und er rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Er fing an zu suchen, lief in die Richtung, aus der das Pochen kam, aber erreichte sie nicht. Er rannte immer schneller, ohne ihr näher zu kommen. Er rannte, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Oder er sah Mi Mi auf einem Schemel sitzen, ging auf sie zu, und plötzlich öffnete sich die Erde und verschluckte ihn. Es wurde dunkel, und er fiel, und es gab nichts, woran er sich festhalten konnte. Ihm wurde immer heißer, bis er merkte, dass er in einem glühenden Sumpf gelandet war und versank. Dann hörte der Traum auf und begann von vorn. Warum konnte er seinen eigenen Tod nicht träumen?
Aber es war nicht das Sterben, wovor er Angst hatte. Er fürchtete sich vor allem anderen. Jeder Berührung. Jedem Wort. Jedem Gedanken. Jedem Herzschlag. Dem nächsten Atemzug.
Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nichts essen, den Tee, den Su Kyi ihm einflößte, spuckte er wieder aus. Er hörte ihre Stimme, aber sie war weit weg. Er fühlte ihre Hand und war sich doch nicht sicher, ob sie ihn wirklich berührte.
Immer wieder gingen ihm U Mays Worte durch den Kopf. »Die einzige Kraft, die gegen die Angst hilft, Tin Win, ist die Liebe.« Aber was hilft gegen die Angst vor der Liebe, U May?
Auch am dritten Tag zeigte er keinerlei Anzeichen einer Besserung. Su Kyi hatte ihn stundenlang massiert, sie hatte ihn mehrfach mit Kräutern eingerieben und war in den vergangenen zweiundsiebzig Stunden nicht von seiner Seite gewichen. Er klagte nicht über Schmerzen, er hustete nicht, und sein Körper schien ihr eher zu kalt als zu heiß. Sie wusste nicht, was ihn plagte, aber sie war sicher: Was immer ihn bewegte, es war eine Frage auf Leben und Tod. Sie überlegte, bei wem sie Rat suchen konnte. Den Schwestern und Ärzten im kleinen Krankenhaus misstraute sie ebenso wie den Astrologen oder den Medizinmännern der Danus, Paos und Palongs. Wenn überhaupt einer helfen konnte, dann war es U May. Vielleicht, dachte sie, war es gar keine Krankheit, unter der er litt, vielleicht waren
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