Herzenhören
getauft, und so nannte er sie noch heute, fast vier Jahre später. Yadana fragte sich manchmal, ob er einfach nachlässig war in seiner Wortwahl oder ob er wirklich nicht bemerkte, was da vor seinen Augen geschah; und je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass er meinte, was er sagte, und dass ihm, wie wohl den meisten Männern, der Sinn für gewisse Dinge fehlte, ein Gespür, das ihm geholfen hätte, mehr zu sehen, als für die Augen erkennbar war.
Mi Mi und Tin Win waren schon lange nicht mehr Bruder und Schwester. Mi Mi war zur Frau geworden, ihr Körper hatte Formen bekommen. Die Freude, die sie ausstrahlte, hatte nichts Kindliches mehr. Es waren das Glück und die Leidenschaft eines Menschen, der begehrt und geliebt wird. Tin Win war noch immer sehr still, höflich und voller Respekt, aber aus seiner Stimme, aus seinen Gesten und Bewegungen sprachen nun nicht mehr nur Fürsorge und Zärtlichkeit; dazu hatten sich Leidenschaft und Begehren gemischt. Zwischen ihnen herrschte eine Nähe, auf die Yadana fast ein wenig neidisch war. Sie selbst hatte dergleichen mit ihrem Mann nie erlebt, und wenn sie ehrlich war, kannte sie auch sonst keine zwei Menschen, die so vertraut miteinander waren.
Yadana überlegte, ob es jetzt, da sie beide achtzehn Jahre alt waren, an der Zeit sei, über eine Heirat zu sprechen. Aber da Tin Win offenbar eine Waise war, war ihr nicht klar, an wen sie sich wenden sollte, und immer wenn sie mit ihrem Mann reden wollte, erzählte er wieder von »Bruder und Schwester«. Vielleicht, dachte sie, sollten sie einfach warten, bis Mi Mi oder Tin Win sie fragen würden. Auf ein paar Monate oder auch ein Jahr würde es nicht ankommen. Sie war überzeugt, dass sie sich weder um ihre Tochter noch um Tin Win Sorgen machen musste. Sie hatten ein Geheimnis des Lebens entdeckt, das Yadana verborgen geblieben war, auch wenn sie immer geahnt hatte, dass es existiert.
18
E s war kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als Tin Win nach Hause kam. Er hatte den Nachmittag mit Mi Mi am See verbracht und fühlte sich wohlig erschöpft vom Schwimmen und dem langen Marsch. Es war ein milder Abend nach einem heißen Tag, die Luft war trocken und noch angenehm warm, im nahe gelegenen Tümpel quakten die Frösche so laut, dass sie alle anderen Geräusche übertönten. Sicher wartete Su Kyi bereits mit dem Abendessen auf ihn. Er öffnete die Gartenpforte und hörte plötzlich zwei unbekannte Stimmen. Männer, die sich mit Su Kyi unterhielten. Sie saßen am Feuer vor dem Haus. Er hörte, dass Su Kyi aufstand und ihm entgegenkam. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu den beiden Fremden. Die Männer machten es kurz. Sie hätten den ganzen Nachmittag auf Tin Win gewartet. Su Kyi sei ausgesprochen gastfreundlich gewesen und habe sie mit Tee und Nüssen bewirtet. Jetzt seien sie müde von der langen Reise und wollten in ihr Hotel. Zumal ihnen morgen eine weitere anstrengende Fahrt bevorstehe. Sie kämen aus Rangun, sein Onkel, der ehrwürdige U Saw, schicke sie mit dem Auftrag, ihn, Tin Win, auf dem schnellsten Weg in die Hauptstadt zu bringen. Alles Weitere werde er von seinem Onkel persönlich erfahren. Man werde morgen früh mit der Bahn nach Thazi reisen, dort nach ein paar Stunden Aufenthalt in den Nachtexpress aus Mandalay steigen und am Morgen danach Rangun erreichen. Die Fahrkarten seien bereits gekauft, Plätze reserviert. Der erste Zug verlasse Kalaw um sieben Uhr, sie würden ihn abholen, er möge bitte ab sechs Uhr auf sie warten. Reisefertig.
Tin Win verstand nicht gleich, was sie sagten. Er hatte, wie er es zunächst bei Unbekannten immer tat, auf ihre Herzen und Stimmen gehört, nicht auf die Worte, die sie sprachen. Der Herzschlag hatte ihm nicht viel verraten. Er klang seltsam ausdruckslos. Was immer sie in Kalaw machten und ihm gerade erzählten, es berührte sie nicht.
Erst Su Kyis tiefer Seufzer ließ ihn aufhorchen. Und ihr Herz. Es schlug unangemessen schnell. Als sei sie zutiefst erschrocken oder habe gerade einen Berg erklommen. Tin Win hatte mit Mi Mis Hilfe gelernt, dass nicht nur körperliche Anstrengung ein Herz heftig zum Pochen bringen kann. Menschen konnten untätig auf dem Boden hocken, äußerlich vollkommen ruhig erscheinen und dabei gleichzeitig ein Herz in ihrer Brust haben, das raste wie ein Tier, das durch den Wald hetzt. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass Phantasien und Träume viele Menschen oft mehr verängstigen und bedrohen als die Wirklichkeit, dass
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