Herzenhören
verschwanden erst, wenn sie auf seinem Rücken saß, ihre Hände um seinen Hals legte und seine Schultern spürte. Es gab keinen Ort, an dem sie sich sicherer und wohler fühlte.
Mi Mi musste an jenen Nachmittag denken, als über ihnen das Gewitter getobt und sie in der Hütte Schutz gefunden hatten. Damals hatte er sie zum ersten Mal wirklich berührt, und mit dieser Berührung war eine Lust in ihr erwacht, die manchmal stärker war als alle anderen Gefühle zusammen. Sie war sich nicht sicher, ob alles, was sie in solchen Momenten empfand, in ihr schlummerte und Tin Win es nur zum Leben erweckte, oder ob es von irgendwo anders herkam. Verzauberte er sie? Was küsste er wach, wenn seine Lippen ihre Haut berührten? Wenn seine Finger über ihren Hals, ihre Brüste, ihren Bauch und ihre Schenkel strichen, hatte sie das Gefühl, er schenke ihr ihren Körper jedes Mal aufs Neue. Tin Win reagierte auf ihre Hände, auf ihre Lippen nicht anders. Sie konnte seinen Körper aufwühlen, ihn liebkosen und streicheln, bis er hemmungslos zuckte und sich aufbäumte vor Lust. In Augenblicken wie diesen fühlte sie sich so lebendig, dass sie nicht wusste, wohin mit ihrem Glück. Der Wind schien sie zu tragen, und sie war leicht und schwerelos, wie sonst nur im Wasser. Sie spürte eine Kraft, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie in ihr steckt. Und die nur Tin Win wecken konnte.
Er hatte sie gelehrt zu vertrauen, ihr die Möglichkeit gegeben schwach zu sein, ihm musste sie nichts beweisen. Er war der Erste und Einzige, dem sie erzählte, wie erniedrigend sie es gefunden hatte, auf allen Vieren zu kriechen. Dass sie manchmal davon träumte, auf zwei gesunden Füßen durch Kalaw zu laufen und in die Luft zu hüpfen, so hoch sie konnte. Einfach so. Er versuchte nicht, sie zu trösten in solchen Momenten. Er nahm sie in die Arme, sagte nichts. Mi Mi wusste, dass er verstand, was sie meinte und wie sie sich fühlte. Je häufiger sie darüber sprachen, desto seltener wurde der Wunsch, auf eigenen Füßen zu laufen. Und sie glaubte ihm, wenn er sagte, es gäbe auf der ganzen Welt keinen schöneren Körper als ihren.
Es gab keinen Schritt, den sie mit ihm nicht wagen würde.
Mi Mi schaute ihn an, und obwohl er kaum mehr als fünfzehn Meter weit weg saß, konnte sie die Entfernung nicht ertragen. Sie zog ihr Hemd und ihren Longy aus, glitt ins Wasser und machte ein paar kräftige Schwimmzüge. Die Sonne hatte den See aufgeheizt, aber das Wasser war noch kühl genug, um zu erfrischen. Es prickelte auf ihrer nackten Haut. Wenn sie sich zwischen seine Beine setzen und sich an ihn lehnen würde, hätten sie beide Platz auf dem Stein. Sie schwamm zu ihm hinüber. Er streckte eine Hand aus und half ihr aus dem Wasser. Sie lehnte sich an ihn, er legte seine Arme um ihren Bauch und hielt sie fest. Mi Mi schloss die Augen.
»Ich habe es nicht ausgehalten ohne dich«, flüsterte sie.
»Ich bin doch da.«
»Ich wollte dich spüren. Außerdem war ich traurig.«
»Worüber?«
»Dass du so weit weg warst, dass ich dich nicht berühren konnte«, antwortete sie, erstaunt über ihre eigenen Worte. »Über jede Stunde, die wir nicht zusammen verbringen. Jeden Weg, den ich ohne dich zurücklegen muss. Über jeden Schritt, den du machst und ich nicht auf deinem Rücken sitzen kann. Jede Nacht, die wir nicht nebeneinander einschlafen und jeden Morgen, den wir nicht nebeneinander aufwachen.«
Sie drehte sich um und kniete vor ihm. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, und er konnte hören, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Sie küsste ihn auf die Stirn und auf die Augen. Sie küsste ihn auf den Mund und den Nacken. Ihre Lippen waren weich und feucht, ihre Küsse bedeckten seine Haut. Er zog sie zu sich heran, und sie schlang ihre Beine um seine Hüfte. Er hielt sie fest, ganz fest. Als könnte sie sonst davonfliegen.
16
D as Pochen erinnerte ihn an das gleichmäßige Tropfen einer Regenrinne. Plopp… Plopp… Plopp… Plopp… In den vergangenen Tagen waren die Abstände immer größer geworden. Es war eine Quelle, die langsam versiegte.
Tin Win hatte es kommen hören. Schon seit Wochen. U Mays Herz hatte in seinen Ohren seit jeher müde und erschöpft geklungen, aber in letzter Zeit waren die Schläge noch matter als sonst gewesen. Seit zwei Wochen schon unterrichtete ein junger Mönch die Schüler allein, U May lag auf seinem Bett, zu schwach, sich zu erheben. Er aß nichts und trank auch trotz der tropischen Temperaturen kaum etwas.
Mi Mi
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