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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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und Tin Win hatten die letzten Tage und Nächte an seinem Bett verbracht. Tin Win hatte ihm vorgelesen, bis seine Fingerspitzen fast wund waren vom Ertasten der Seiten. Mi Mi hatte sich erboten, für ihn zu singen, doch U May hatte abgelehnt. Er wisse um die magische Kraft in ihrer Stimme, und er wolle nichts unternehmen, was sein Leben künstlich verlängern würde, hatte er gesagt und den Mund zu einem kurzen Lächeln verzogen.
    Jetzt gönnten sie sich eine Pause, saßen in einem Teehaus auf der Hauptstraße und tranken frischen Zuckerrohrsaft. Es war heiß, Kalaw lag seit zwei Wochen unter einer Hitzeglocke, und es gab keine Anzeichen für eine Linderung. Die Luft stand still. Sie schwiegen. Selbst die Fliegen leiden unter der Hitze, dachte Tin Win. Ihr Summen klang träge und viel behäbiger als sonst. Neben ihnen hockten Händler und Marktfrauen, und alle klagten sie unaufhörlich über das Wetter. Für Tin Win war das unbegreiflich. U May lag im Sterben, keine zweihundert Meter entfernt, und die Menschen tranken einfach ihren Tee. Gingen ihren Geschäften nach. Redeten über so Banales wie das Wetter.
    Er hörte den Mönch schon von weitem kommen und erkannte ihn auch sofort an seinem ungleichmäßigen Gang. Es war Zhaw, dessen linkes Bein ein winziges Stück kürzer war als das rechte, und der deshalb hinkte, wenn auch nicht sichtbar. Bis auf Tin Win war das noch nie jemandem aufgefallen. Zhaw hatte schlechte Nachrichten, Tin Win hörte es an seinem wimmernden Herzschlag. Der klang fast so elend wie der des verletzten Kalbs, das Mi Mi vor kurzem gefunden hatte und das in ihren Händen gestorben war.
    »U May hat das Bewusstsein verloren«, rief Zhaw völlig außer Atem.
    Tin Win stand auf, kniete sich vor Mi Mi, die kletterte auf seinen Rücken, und sie liefen los. Er rannte so schnell er konnte die Hauptstraße hinunter, Mi Mi lenkte ihn zwischen den Passanten hindurch und an einem Ochsenkarren vorbei, sie bogen in den Weg, der zum Kloster führte, eilten über den Hof die Treppe hinauf.
    Alle Mönche und viele Dorfbewohner hatten sich um U May geschart; sie saßen auf dem Boden und füllten die große Meditationshalle fast zur Hälfte aus. Als sie Tin Win und Mi Mi sahen, bildeten sie eine schmale Gasse, die zu U Mays Bett führte. Mi Mi erschrak bei seinem Anblick. Sein Gesicht war in der vergangenen Stunde noch stärker eingefallen. Seine Augen lagen so tief, als wollten sie ganz im Schädel versinken. Die Nase stach heraus, die Lippen waren fast völlig verschwunden. Über den Wangenknochen spannte sich die Haut, so blass und leblos wie ein Stück Leder. Die Hände lagen gefaltet auf seinem Bauch.
    Sie hockten sich neben das Bett. Mi Mi blieb hinter Tin Win sitzen und legte ihre Arme um seine Brust.
    Tin Win wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Das Herz klang kaum lauter als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Wie hatte er diesen Augenblick gefürchtet. Ein Leben ohne U May hatte er sich lange Zeit nicht vorstellen können. Ohne seine Stimme. Ohne seinen Rat. Ohne seine Ermunterung. Er war der erste Mensch gewesen, dem er sich hatte öffnen können, so weit es damals in seinen Möglichkeiten lag. Und U May hatte versucht, ihm die Angst zu nehmen. »In jedem Leben liegt die Saat des Todes«, hatte er ihm in den ersten Jahren ihrer Freundschaft wieder und wieder erklärt. Dass der Tod zum Leben gehöre wie die Geburt, dass niemand ihm entkommen könne und es deshalb auch sinnlos sei, sich dagegen zu wehren. Je früher man ihn als natürlichen Teil des Lebens akzeptiere, anstatt ihn zu fürchten, umso besser.
    Tin Win hatte die Logik des Arguments eingesehen, aber es hatte ihn nicht wirklich erreicht. Die Angst war geblieben. Die Angst vor U Mays Tod, aber auch vor seinem eigenen. Dabei hätte er nicht einmal sagen können, dass er am Leben hing oder es als besonders lebenswert ansah. Und dennoch war da eine Angst gewesen, die zuweilen an Panik grenzte. Sie hatte etwas Animalisches, und er musste zuweilen an das Ferkel denken, das sein Vater in seinem Beisein geschlachtet hatte. Nie würde er diesen Anblick vergessen. Die weit aufgerissenen Augen. Das entsetzliche Quieken, das panische Strampeln, das Zucken des ganzen Körpers. Vermutlich ist Todesangst ein Überlebensinstinkt, dachte Tin Win später, vermutlich gehört sie zu uns, zu jeder Kreatur. Gleichzeitig müssen wir sie überwinden, um in Frieden Abschied nehmen zu können. Er fand dies einen unlösbaren Widerspruch. Nicht ein Mal

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