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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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hatte er in den vergangenen zwei Jahren über das Sterben nachgedacht, und nun, da er im Angesicht des nahen Todes von U May dazu gezwungen war, entdeckte er in sich eine unerwartete Gelassenheit. Zum ersten Mal hatte er etwas zu verlieren, und dennoch fürchtete er sich nicht mehr davor. Zu gern hätte er U May nach einer Erklärung gefragt, aber es war zu spät. Plötzlich bewegte U May die Lippen.
    »Tin Win, Mi Mi, seid ihr da?« Er sprach nicht, er hauchte die Worte.
    »Ja«, sagte Tin Win.
    »Erinnerst du dich, wie ich sterben wollte?«
    »Ohne Angst und mit einem Lächeln auf den Lippen«, antwortete Tin Win.
    »Angst habe ich nicht«, flüsterte U May. »Mi Mi wird dir verraten, ob mir auch das Lächeln gelingt.«
    Tin Win nahm U Mays Hand und bat ihn, nicht mehr zu sprechen. »Schone dich.«
    »Wofür?«
    Es klang wie sein letztes Wort. Tin Win hoffte, er würde noch etwas sagen. Kein Leben sollte mit einer Frage enden. Wofür?
    Das klang nach vergeblicher Anstrengung. Nach Zweifeln. Nach etwas Unerfülltem. Tin Win zählte die Sekunden zwischen den Herzschlägen. Es dauerte jeweils mehrere Atemzüge, bis es wieder pochte.
    Noch einmal öffnete U May den Mund. Tin Win beugte sich vor.
    »Die Liebe«, sagte der Alte. »Die Liebe.« Mehr nicht.
    Tin Win war überzeugt, dass er dabei lächelte.
    Dann wurde es still. Tin Win wartete. Stille. Eine maßlose, alles verschlingende, jedes Geräusch übertönende Stille.
    Er hörte Mi Mis Herz und dann sein eigenes, und mit jedem Schlag glich sich ihr Takt mehr an, kamen sie sich näher, und für einige Sekunden, die ihm wie eine lange Zeit erschienen, hörte er nur ein Herz schlagen.
    17
    E s gab Augenblicke in ihrem Leben, magische Momente nannte Yadana sie, die würde sie bis zum Tage ihres Todes nicht vergessen. Dazu gehörte die Sekunde, in der sie Tin Win zum ersten Mal sah. Noch Jahre später hatte sie diese Begegnung deutlich vor Augen. Sie saß auf der Veranda ihres Hauses und war dabei, aus getrocknetem Gras einen Korb zu flechten. Es war später Nachmittag, sie konnte bereits das Feuer der Nachbarn riechen und hören, wie sie mit ihren Töpfen und dem Blechgeschirr klapperten. Sie war allein, ihr Mann und die Söhne waren noch auf dem Feld. Plötzlich stand Tin Win im Hof. Auf dem Rücken trug er Mi Mi. Bis heute hätte sie nicht sagen können, was sie damals so berührt hatte. War es Tin Wins junges Gesicht, in dem, obschon er Probleme mit seinen Augen zu haben schien, eine Ausstrahlung lag, wie sie sie selten bei Erwachsenen gesehen hatte? Oder sein Lachen, nachdem ihm Mi Mi etwas ins Ohr geflüstert hatte? Die Art, wie er behutsam die Verandatreppe hinaufstieg, sich von Stufe zu Stufe vorantastete, sich hinhockte und Mi Mi von seinem Rücken gleiten ließ? Oder einfach das Gesicht ihrer Tochter, das vor Glück zu glühen schien, ihre Augen, die sie so freudig anstrahlten und leuchteten, wie zwei Sterne in der Nacht. Sie hatte sofort gewusst, dass dieser Junge der Grund dafür war.
    Seit diesem Tag hatte Tin Win Mi Mi Abend für Abend nach Hause gebracht. Zunächst war er ausgesprochen still gewesen, hatte Mi Mi abgesetzt und sich kurz darauf sehr höflich verabschiedet. Doch nach einigen Wochen fing er an, Mi Mi beim Kochen zu helfen und zum Abendessen zu bleiben.
    Yadana hatte bald begonnen, ihn »meinen jüngsten Sohn« zu nennen. Je länger sie ihn kannte, desto mehr mochte sie ihn. Seinen Takt, die Fürsorge und Zärtlichkeit, mit der er Mi Mi behandelte. Seinen Humor und seine Bescheidenheit. Sein Einfühlungsvermögen. Oft schien er zu wissen, wie es Yadana und ihrer Familie ging, ehe sie auch nur ein Wort gewechselt hatten. Sie hatte auch nicht das Gefühl, dass er sich vom Verlust seiner Augen sonderlich behindern ließ, schon gar nicht, wenn Mi Mi auf seinem Rücken saß. Manchmal, wenn sie die beiden den Berg hinauflaufen sah, rührte der Anblick sie so sehr, dass ihr die Tränen kamen. Tin Win ging, trotz seiner Last, aufrecht und mit wippendem Schritt, fast federnd, und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass seine Schritte ohne diese Last unsicherer und schwerer wären. Er schleppte Mi Mi nicht, er trug sie wie ein Geschenk, glücklich und stolz. Sie saß auf seinem Rücken, sang oder flüsterte ihm etwas ins Ohr, und oft erkannte sie die beiden schon an ihrem Lachen, bevor sie sie sah. Als würden gesunde Augen und Füße im Leben keine Rolle spielen.
    Ihr Mann hatte die beiden nach einigen Monaten »Bruder und Schwester«

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