Herzenhören
getragen. Sie gingen zur Treppe, stiegen die Stufen hinunter und liefen über den Hof.
Sie streichelte sein Gesicht und den Hals. »Du schwitzt.«
»Ich bin den ganzen Weg gerannt. Ich musste dich sehen.«
»Wo wollen wir hin?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Wo wir niemanden wecken und allein sein können.«
Mi Mi überlegte. Ein paar Häuser entfernt begannen die Felder, und auf einem stand eine Regenhütte. Sie wies ihm den Weg, und ein paar Minuten später waren sie beim Unterstand und krochen hinein. Die Wände waren aus geflochtenem Gras, und Mi Mi konnte durch die Löcher im Dach den Himmel sehen. Er war klar und voller Sterne. Es war eine ungewöhnlich warme Nacht, und Mi Mi merkte, dass ihr Herz vor Erwartung schneller schlug. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren nackten Bauch.
»Mi Mi, ich fahre morgen früh nach Rangun. Mein Onkel, der dort lebt, hat zwei Männer geschickt, die mich abholen und begleiten.«
Nie sollte sie diesen Satz vergessen, noch Jahrzehnte später würde er ihr in den Ohren klingen, würde sie seine Stimme hören und sein Gesicht dazu sehen. Stunden zuvor, am See, hatte sie von der Zukunft geträumt, von einer Hochzeit, hatte sich vorgestellt, wie sie mit Tin Win in einem Haus lebt und von Kindern, die über den Hof toben, mit Füßen zum Laufen und Augen zum Sehen. Sie hatte in seinen Armen gelegen und ihm die Szene beschrieben. Sie hatten beschlossen, in den nächsten Wochen mit Mi Mis Eltern über eine Heirat zu reden. Und nun würde er in die Hauptstadt fahren. Mi Mi wusste, was das bedeutete. Rangun war das andere Ende der Welt. Dahin reist man selten, und noch seltener kehrt man zurück. Sie wollte ihn fragen, was der Onkel von ihm wolle und wie lange er fortbleiben würde und warum sie sich trennen müssten, aber gleichzeitig ahnte sie, dass Worte ihr nicht helfen konnten, nicht jetzt, und sie spürte, wie ihr ganzer Körper nach Tin Win verlangte. Sie nahm seine Hände und zog ihn zu sich hinab. Ihre Lippen berührten sich. Sie zog ihr Hemd über ihren Kopf, und er küsste ihre Brust. Sein warmer Atem auf ihrer Haut. Sein Mund glitt an ihr hinab, er löste ihren Longy, sie waren beide nackt. Er küsste ihre Beine und ihre Schenkel, seine Zunge spielte mit ihr, sie spürte ihn, wie sie ihn noch nie gespürt hatte. Und sie spürte sich. Mehr und tiefer und schöner denn je. Als würden alle Versprechen dieser Welt auf einmal eingelöst. Mit jeder Bewegung schenkte er ihr ihren Körper aufs Neue, keine Kraft auf dieser Welt konnte sie halten, und sie sah sich fliegen, über Kalaw, über die Wälder und Berge und Täler, von einem Gipfel zum anderen. Die Erde schrumpfte zu einer winzigen Kugel, auf der Rangun und Kalaw und alle übrigen Städte und Länder nur einen Finger breit voneinander entfernt lagen. Auf der es keine Dämonen und Gespenster gab. Sie hatten jede Kontrolle über ihre Körper verloren. Es war, als würden alle ihre Gefühle auf einmal explodieren, die Wut und die Angst und die Verzweiflung, das Verlangen, die Zärtlichkeit und ihre Begierde. Für einen kurzen Augenblick, für die Dauer eines Herzschlags oder zwei, machte alles in ihrem Leben Sinn.
19
Z u packen gab es nicht viel. Tin Win besaß nichts außer etwas Unterwäsche, drei Longys, vier Hemden und einem Pullover. Den Pullover würde er im Delta nicht brauchen, entschied Su Kyi. In der Hauptstadt war es das ganze Jahr über heiß und feucht. Sie packte die Sachen in eine alte Stofftasche, die sie einmal in der Nähe des britischen Clubs gefunden hatte. Für die Reise hatte sie ihm Reis und sein Lieblingscurry aus getrockneten Fischen gekocht. Sie füllte das Essen in einen Blechnapf mit verschließbarem Deckel und steckte ihn zwischen die Longys. Ganz nach unten legte sie den Tigerknochen, den Tin Win von seinem Vater bekommen hatte. Und das Schneckenhaus und die Vogelfeder, die Mi Mi ihm vor einigen Monaten geschenkt hatte. Su Kyi schaute aus dem Fenster, es musste kurz nach halb sechs sein, noch war es dunkel, aber die Vögel sangen bereits und es dämmerte allmählich. Tin Win war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen. Er saß vor der Küche.
Die ganze Nacht über war Su Kyi wach gelegen. Zum ersten Mal seit langer Zeit machte sie sich wieder Sorgen um Tin Win. Er hatte sich seit dem Beginn der Freundschaft mit Mi Mi auf eine Weise verändert, wie sie es nicht für möglich gehalten hatte. Er hatte das Leben entdeckt, und wenn sie morgens gemeinsam aßen, hatte sie oft das
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