Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
Vom Netzwerk:
Saw hatte er gestern Abend zuletzt gesehen. Sie hatten zusammen gegessen, anschließend hatte er ihm die Reiseunterlagen gegeben. Den Pass mit dem Visum für die Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Ticket für die Fahrt nach Liverpool, ein zweites für die Überquerung des Atlantiks. Einen Brief an den Geschäftspartner, einen indischen Reisimporteur in New York, der sich in den ersten Monaten um Tin Win kümmern sollte. Einen Umschlag mit Geld. Noch einmal hatte er ihm erklärt, was er von ihm erwartete. Mindestens sechs Briefe pro Jahr mit detaillierten Berichten. Ein abgeschlossenes Studium. Mit Auszeichnung. Hatte ihm noch einmal ausgemalt, was für eine Zukunft ihm nach seiner Rückkehr bevorstünde. Zum Manager würde er ihn machen, später zum Partner. Er würde zu den einflussreichsten Männern der Stadt gehören. Ihm würde es an nichts fehlen.
    Er hatte ihm alles Gute gewünscht. Für die Reise, für das Studium. Dann hatte er sich umgedreht und war ins Büro gegangen. Sie hatten einander nicht berührt.
    Tin Win hatte ihm nachgeschaut und überlegt, wie lange ein junger Baum wohl brauche, um Wurzeln zu schlagen, wenn man ihn verpflanzt. Ein paar Monate? Ein Jahr? Zwei? Drei? Zwei Jahre hatte er nun in Rangun gelebt und sich bis zuletzt unwohl gefühlt. Er war in der Stadt ein Fremder geblieben. Ein Baum, den ein Windstoß erfassen und forttragen konnte.
    In der Schule war er von den Lehrern für seine Leistungen geachtet worden, seine Mitschüler hatten ihn wegen seiner Hilfsbereitschaft respektiert. Freunde hatte er keine gefunden. Es gab niemanden, der Tin Win in Rangun hielt.
    Er blickte über den Hafen und die Stadt. In der Ferne leuchtete die goldene Spitze der Shwedagon-Pagode in der späten Nachmittagssonne. Der Himmel war blau, ohne eine Wolke. Im Dezember konnte man es in Rangun gut aushalten, dachte er. Die Tage waren warm, aber nicht zu heiß, die Nächte angenehm mild. Der Dezember gönnte den Menschen einige Wochen der Ruhe zwischen der feuchten Hitze des Monsuns und dem Frühjahr, wenn die Sonne kein Erbarmen kennt, wenn sie jedem Menschen, jedem Tier Zügel anlegt, wenn die Hitze den Gestank nach Schweiß und Kot in den Hinterhöfen und Hausfluren hält, die Temperaturen auf 40 Grad klettern und die Luft zu heiß zum Atmen scheint. Der Dezember lockte die Bewohner aus ihren Häusern.
    Tin Win war in den Wochen vor seiner Abreise abends oft durch die Stadt gewandert. Dabei hatte er von den Gerüchten erfahren, die über die Stadt hergefallen waren wie ein Schwarm Heuschrecken über ein Reisfeld. Hinter jeder vorgehaltenen Hand, an jedem Suppenstand gab es ein neues. Als würden sich die Menschen von nichts anderem ernähren. In der Bucht von Bengalen braue sich ein Jahrhunderttaifun zusammen, hieß es. Ein Tiger habe das Hafenbecken durchschwommen und eine fünfköpfige Familie samt Hausschwein verspeist. Was nicht nur für sich genommen schon eine Tragödie bedeutete, sondern, wie jeder Mensch weiß, der einem Wahrsager vertraut, darüber hinaus auch ein deutliches Zeichen für ein bevorstehendes Erdbeben. Deutsche Kriegsschiffe blockierten die englischen Häfen, hieß es, und schlimmer noch: Die Japaner bereiteten einen Angriff auf Birma vor. Die Sterne meinten es nicht gut mit den Briten, weder in Europa, noch in Asien. Birma sei so gut wie verloren, sollte der Einmarsch auf einen Mittwoch oder Sonntag fallen.
    Tin Win hatte die Gerüchte zur Kenntnis genommen und in bescheidenem Maß zu ihrer Weiterverbreitung beigetragen. Nicht weil er ihnen Glauben schenkte, sondern eher im Sinn einer Art Bürgerpflicht. Ihn berührte das Gerede nicht. Zwar würde ihn seine Reise durch den Golf von Bengalen und in englische Häfen führen, doch er fürchtete sich nicht. Weder vor Erdbeben, noch den Japanern. Nicht vor Taifunen. Nicht vor deutschen U-Booten.
    Er fragte sich, wann die Angst ihn verlassen hatte. War es an dem Abend, an dem sein Onkel ihm mitteilte, dass er, Tin Win, nach Abschluss der Schule im Ausland studieren würde? Oder ein paar Tage später, als U Saw erklärte, dass Tin Win nach seiner Rückkehr die Tochter eines Baumwollplantagenbesitzers heiraten würde? Oder geschah es in jenem Moment, als er mit Hla Taw beim britischen Maßschneider in den Spiegel blickte? Einen Spiegel, den zwei Verkäufer für ihn hielten und in dem er einen weißen Anzug sah. Mit Weste. Feinste Baumwolle. Weißes Hemd, Manschettenknöpfe, Krawatte. Hla Taw wusste, wie man sie bindet. Er hatte sich umgedreht,

Weitere Kostenlose Bücher