Herzenhören
das in der letzten Zeit immer mehr abnahm. Und dankbar? Er kannte niemanden, dem er Dankbarkeit schuldete. Seiner Frau war er dankbar gewesen, wenn sie beim Abendessen nicht zu viel redete und ihn in Ruhe ließ.
Er blickte auf den Stapel Briefe, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Seit einem Jahr schrieb sein Neffe dieser Mi Mi in Kalaw jeden Tag einen Brief. Seit einem Jahr! Jeden Tag! Ohne Ausnahme. Und das, obwohl er bisher nicht einmal eine Antwort erhalten hat. U Saw blickte auf den Stapel Briefe, der seinen Schreibtisch füllte. Er war froh, dass es in diesen schwierigen Zeiten Hauspersonal gab, auf das man sich verlassen konnte. Jeden Abend gab ihm der gute Hla Taw Tin Wins Brief, den er hätte zur Post bringen sollen. Selbstverständlich sortierte er auch Mi Mis Brief aus, der täglich mit der späten Post kam. Sie hören und lesen nichts voneinander und hören dennoch nicht auf, einander Briefe zu schreiben. U Saw musste laut lachen über so viel Irrsinn. Er versuchte sich zu beherrschen, prustete aber los, verschluckte sich, hustete und rang nach Luft. Als er sich dann beruhigt hatte, legte er die Umschläge zurück in die oberste Schublade und öffnete die unterste. Mi Mis Briefe hatte er bisher ungelesen dort hineingelegt. Wahllos nahm er einige von ihnen heraus.
Mein kleiner, geliebter Tin Win,
ich hoffe, du hast jemanden gefunden, der dir meine Briefe vorliest. Gestern hat sich meine Mutter zu mir auf die Veranda gesetzt, sie hat meine Hände genommen, mich angeschaut und gefragt, ob es mir gut geht. Und sie sah dabei aus, als wollte sie mir sagen, dass sie dem Tod nahe ist. Danke, Mama, mir geht es gut, habe ich geantwortet. Wie hältst du es ohne Tin Win aus? Er ist schon mehr als einen Monat fort, wollte sie wissen. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich nicht ohne dich bin, dass du bei mir bist von dem Moment, an dem ich erwache, bis zu dem Augenblick, in dem ich einschlafe, dass du es bist, den ich spüre, wenn der Wind mich streichelt, dessen Stimme ich in der Stille höre, den ich sehe, wenn ich die Augen schließe, der mich zum Lachen bringt und mich singen lässt, wenn ich niemanden in meiner Nähe weiß. Ich habe das Mitleid in ihren Augen gesehen und geschwiegen. Es war eines dieser Missverständnisse, bei dem Worte nichts ausrichten können.
Meine ganze Familie bemüht sich rührend um mich. Meine Brüder fragen mich ständig, ob ich irgendwohin möchte, und sie tragen mich in ganz Kalaw herum. Ich denke an dich und summe auf ihren Rücken vor mich hin. Meine Freude ist ihnen rätselhaft, manchmal vielleicht auch unheimlich. Wie soll ich ihnen erklären, dass das, was du mir bedeutest, was du mir gibst, nicht davon abhängt, an welchem Ort der Welt du bist? Dass man nicht die Hand des anderen spüren muss, um einander zu berühren?
Gestern haben wir Su Kyi besucht. Ihr geht es gut. Sie würde sich freuen, wenn du ihr eine Nachricht zukommen ließest. Ich habe ihr gesagt, wir werden von dir hören oder lesen, wir werden dich wiedersehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Aber du kennst sie. Sie macht sich Sorgen. Jetzt muss ich aufhören, damit mein Bruder den Brief noch mit zur Post nehmen kann. Sei lieb gegrüßt von Su Kyi, von meiner Mutter und meinen Brüdern und ganz besonders von mir,
deine dich vermissende und mit jedem Tag mehr liebende
Mi Mi
Mein großer und starker, mein kleiner, geliebter Tin Win,
vor einigen Wochen habe ich angefangen, Cheroots zu rollen. Meine Mutter meinte, ich sollte etwas lernen, womit ich eines Tages Geld verdienen und für mich selber sorgen kann. Ich habe das Gefühl, sie glaubt nicht, dass du zurückkommst. Sie sagt das aber nicht. Weder ihr noch meinem Vater geht es sonderlich gut. Beide klagen über Schmerzen in den Beinen und im Rücken, und mein Vater wird immer kurzatmiger. Er arbeitet kaum noch auf dem Feld. Er hört auch immer schlechter. Es rührt mich zu sehen, wie sie alt werden. Beide sind sie weit über fünfzig, und die meisten Menschen in Kalaw erreichen dieses Alter gar nicht. Meine Eltern haben dieses Glück. Sie werden sogar gemeinsam alt. Was für ein Geschenk. Wenn ich einen Wunsch habe, so den, dass wir dieses Glück teilen. Ich möchte mit dir alt werden. Davon träume ich, wenn ich Cheroots rolle. Von dir und unserem Leben.
Die Arbeit ist viel leichter, als ich gedacht hatte. Mehrmals in der Woche kommt ein Mann aus dem Dorf und bringt einen Stapel getrocknete Thanatblätter, alte Zeitungen und Maisblätter (die
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