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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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um zu sehen, ob jemand hinter ihm stand. Dies konnte nicht sein Spiegelbild sein. Drei Anzüge hatten sie gekauft, Schuhe und Unterwäsche und Hemden. Einen ganzen Schrankkoffer voll. Nur für die Überfahrt nach Amerika.
    Nein, es war keiner dieser Augenblicke gewesen. Die Angst hatte sich ganz allmählich davongeschlichen. Tin Win wusste nicht, wann oder wie es begonnen hatte, es war ein langsamer Prozess. Eine Mango reift nicht über Nacht.
    Er erinnerte sich an jenen Nachmittag im Juli, als es ihm bewusst geworden war. Es war einer dieser unerträglich heißen Sommertage, aber die Hitze machte ihm nicht viel aus. Er saß im Park am Königlichen See, in Schweiß gebadet. Vor ihm hockten ein paar Tauben, die Köpfchen eingezogen, zu erschöpft zum Turteln. Er schaute aufs Wasser und träumte von Mi Mi. Zum ersten Mal fühlte er bei dem Gedanken an sie nicht diese lähmende, jede Lebenslust zermürbende, alles verschlingende Sehnsucht. Keine Angst. Nicht einmal Trauer. Er wusste, dass er Mi Mi mehr liebte denn je, aber seine Liebe zehrte ihn nicht auf. Nicht mehr. Sie fesselte ihn nicht. Nicht ans Bett, nicht an einen Baumstumpf. Sie machte ihn nicht schwächer.
    Als es zu regnen begann, schloss er die Augen. Ein kurzer, aber heftiger Schauer. Als er die Augen wieder öffnete, war die Dämmerung hereingebrochen. Er stand auf, ging ein paar Schritte und spürte am ganzen Körper, dass sich etwas verändert hatte. Als wäre er gewachsen. Eine Last war von ihm gefallen, er war frei. Er erwartete nichts mehr vom Leben. Nicht weil er enttäuscht war oder verbittert. Er erwartete nichts, weil es nichts Wichtiges mehr gab, das ihm hätte zufallen können. Alles Glück, das ein Mensch finden kann, besaß er. Er liebte, und er wurde geliebt. Bedingungslos.
    Er sprach den Satz aus, leise, seine Lippen bewegten sich kaum: Ich liebe und werde geliebt.
    Das war alles. So einfach war es, so kompliziert.
    Er war sich seiner und Mi Mis Liebe so sicher, wie er sich seines Körpers sicher war. Niemand würde ihm dieses Glück je nehmen können. So lange er atmete, würde er sie lieben und von ihr geliebt werden. Auch wenn Mi Mi zwei Tagesreisen entfernt lebte. Auch wenn sie seine Briefe nicht beantwortete und er jede Hoffnung aufgegeben hatte, sie in den kommenden Jahren wiederzusehen. Auch wenn sie ihre Liebe nicht im Alltag teilen und sich nicht jeden Tag bestätigen konnten. Was er hatte, war mehr, als die meisten Menschen je in ihrem Leben finden würden. Er musste nur aufhören, noch mehr zu wollen. Er durfte nicht gierig sein. Gier macht blind und taub. Er schämte sich, dass er seinem Glück gegenüber so blind gewesen war.
    Seit er das begriffen und akzeptiert hatte, wusste er, wie reich er beschenkt worden war. Er lebte nicht mehr in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Er genoss jeden Tag, als wache er neben Mi Mi auf und schliefe neben ihr ein.
    »Leinen los.« Die Stimme eines jungen Offiziers auf der Brücke riss Tin Win aus seinen Gedanken.
    »Leinen los«, wiederholten zwei Männer auf dem Pier. Krachend fielen die Taue ins Wasser. Aus den Schloten stieg schwarzer Qualm. Das Schiff vibrierte, das Tuten war tief und laut. Es kitzelte Tin Win im Magen.
    Er wandte sich um. Ein alter Mann neben ihm blickte auf Rangun und hob kurz seinen Hut. In seinen Augen lag eine sonderbare Melancholie. Als verabschiede er sich nicht nur von Menschen und einer Stadt. Hinter ihm standen zwei junge Engländerinnen, sie winkten mit weißen Taschentüchern und weinten.
    Tin Win wischte sich über das Gesicht. Nicht einmal ein Schweißtropfen lief seine Wangen hinab.
    7
    D ie Müdigkeit war ihm während des Erzählens ins Gesicht gekrochen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Die Falten um den Mund und auf der Stirn waren tiefer geworden, die Wangen wirkten eingefallen. U Ba rührte sich nicht und blickte an mir vorbei.
    Ich wartete.
    Nach ein paar Minuten des Schweigens griff er in seine Tasche und zog wortlos ein altes Briefkuvert hervor. Es war zerknittert und eingerissen und in seinem Leben wohl schon oft gefaltet worden. Der Brief trug einen Poststempel aus Rangun und war an Mi Mi adressiert. Die Anschrift war ein wenig verblichen, aber die blaue Tinte, die großen Buchstaben und eine ungewöhnlich geschwungene Handschrift waren noch deutlich zu erkennen. Auf der Rückseite des Umschlags der Absender: 7, Halpin Road, Rangun.
    Es war unmöglich die Schrift meines Vaters. Sie war zu kräftig, sie nahm sich zu wichtig, als dass sie zu

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