Herzensjunge
»du spielst sehr schön.«
Hat er aufgehört? Ist das Lied zu Ende? In mir klingt es noch nach.
Auf einmal stehen wir an der Tür, und ich umarme Oma und gebe ihr den kleinen Teddy und wünsche ihr Glück, und sie umarmt mich und Jan.
»Ich bin nicht aus der Welt«, sagt Oma, »spätestens am zweiten Tag nach der Operation werde ich ja wohl wieder ansprechbar sein.«
Jan und ich steigen in den Bus und fahren die vier Stationen, und ich habe noch das Lied im Ohr und sehe die Szene aus dem Film vor mir und Leonardo DiCaprio, der in der schwarzen Tiefe des Meeres versinkt.
35
Heute ist Halloween. Zwei Partys sind angesagt. Franziska macht eine und wird endlich mal alle ihre Räucherstäbchen abbrennen können.
Pia macht auch eine. Sie ist in meiner Parallelklasse und wohnt bei uns nebenan. Ich werde auf keine der Partys gehen.
Heute werde ich Jans Vater kennenlernen. In Lenas
Küche. Ich habe die Erlaubnis von Mama und Papa. Andreas wird mich begleiten.
Papa hat schon in aller Frühe bedauert, dass der Reformationstag untergeht und alle nur maskiert durch die Straßen rennen und »Süßes oder Saures« kreischen. Alle sind es nicht. Auch nicht alle unter zehn.
Danach ist Papa zu Oma gefahren, um sie in die Klinik zu bringen. Sie wird in St. Georg operiert. Das ist fast bei ihr um die Ecke. »Eine gute Herzchirurgie«, sagt Papa, und dass wir uns nicht sorgen müssen.
Nachmittags hat er sich dann darüber ausgelassen, dass Oma so viel Gepäck bei sich hatte, statt Papa den Ersatzschlüssel zurückzugeben. Wäre doch viel einfacher gewesen, ihr öfter frische Wäsche zu bringen. Ich laufe rot an und gehe ins Bad.
Wir verkleiden uns nicht. Doch Andreas und ich bringen Lena einen Kürbis mit, den Andreas gestern auf dem Markt gekauft und ausgehöhlt hat.Teelichter haben wir auch dabei.
»Pass auf deine Schwester auf«, sagt Papa, »und nicht später als zehn. Dann seid ihr beide wieder zu Hause.«
»Sagen wir elf«, sagt Mama, »Andreas ist doch dabei.«
Wenn Papa eines hasst, ist es diese Uneinigkeit in der Erziehung. Meine Brüder und ich genießen sie. Echt hilfreich, diese Uneinigkeit.
Ich komme in Lenas Küche, und Jan und sein Vater stehen beide auf, um uns zu begrüßen. Alle sind verlegen. Warum? Was weiß Jans Vater?
Er ist groß und dunkelhaarig und sieht gut aus. Doch er hat keine Locken und auch nicht so ein langes, schmales Gesicht wie Jan. Seines ist vom Wetter gegerbt,
als sei er viel auf See gewesen. Doch ich weiß mittlerweile, dass er Architekt ist. Da klettert man wohl oft auf dem Bau herum und lässt sich den Wind ins Gesicht wehen. Richtfeste und so.
Wusste gar nicht, dass Lenas Vater auch Architektur studiert hat. Heutzutage arbeitet er jedenfalls bei einer Bastelzeitschrift. Die Küche hat er selbst gebaut und so sieht sie aus. Ikea ist da Feinschliff gegen.
Ich setze mich neben Jan, der mir den Platz reserviert zu haben scheint. Lenas Mutter stellt den Kürbis auf den großen Tisch aus Kiefernholz und zündet das Teelicht an. Es ist ziemlich stimmungsvoll. Leider gibt es Kürbissuppe mit Ingwer. Die wird es morgen bei uns auch geben.
Der Abend plätschert dahin.Andreas und Lena halten Händchen. Das tun Jan und ich auch. Nur viel verborgener. Lenas Mutter zieht sich zurück, weil sie erkältet ist. Die Männer sind in alte Geschichten vertieft.
Vielleicht kriege nur ich es mit, wie Jan auf einmal zusammenzuckt. Ich, die ich Jans Hand halte. Etwas ist gesagt worden und hat daran Schuld. Ich habe diesen Satz auch aufgefangen und das Gefühl gehabt, dass er von Bedeutung ist. »Telse wollte nie aufs Meer.«
Lenas Vater hat das gesagt. Ich habe keine Ahnung, wer Telse ist, doch ich kann es mir denken, als ich den Blick sehe, den Jans Vater seinem Sohn zuwirft. Da ist was Angstvolles drin. Sorgt er sich um Jan?
Es ist erst halb zehn, doch wir brechen schon auf.Was sind das für Abende, an denen man erst um elf zu Hause sein müsste, und dann entwickeln sie sich leider nicht entsprechend?
Wir stehen vor Lenas Haus und verabschieden uns und geben uns alle Küsschen auf die Wangen. Ich tue das bei Jan auch. Ganz unverdächtig.
Kalt ist es geworden.Von gestern auf heute. Andreas lehnt das Angebot von Jans Vater, uns nach Hause zu fahren, dankend ab. Sind ja nur ein paar Schritte.
Ich denke daran, dass ich morgen mit Jan in Omas Wohnung sein werde. Samstag. Alle Zeit der Welt. Dann werde ich ihn nach Telse fragen.
36
Ich halte eine Tüte von Butter Lindner in der Hand. Es ist
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