Herzensjunge
seltenen Momente, in denen meine Worte von allen wahrgenommen werden. Die Türen öffnen sich und sie kommen herbei. Mama, Andreas, Adrian. Papa steht ohnehin schon im Flur.
In der Küche ist der Tisch gedeckt. Die gemütliche Variante. Eine karierte Decke. Das dicke weiße Porzellan. Kerzen.Aber nicht in Silberleuchtern wie an hohen Festtagen, sondern in den Haltern aus erdfarbenem Ton, die ich in der dritten Klasse hergestellt habe.
Wie schade, dass Jan nicht hier ist. Ich hätte ihn so gern dabei, um ihn teilhaben zu lassen, an dem, was mir gerade wieder warm durchs Herz zieht. Geborgenheit ist das wohl. Hoffentlich machen Mama und Papa keinen Quatsch und gefährden das Ganze.
Oma kommt morgen gleich als Erste dran. Papa wertet das als gutes Zeichen. Dann sind die Ärzte, die operieren, noch ausgeruht. »Oder verkatert vom Wochenende«, sagt Oma. Sie weiß mehr vom Leben als er. Doch ich hoffe, dass Papa recht behält.
Ich hoffe auch sehr, dass Andreas und ich nach dem Essen noch ein bisschen quatschen können.Würde gern mit ihm über Jans Vater sprechen. Irgendwas finde ich an ihm beunruhigend. Er ist mir schon sympathisch, doch sein Blick weicht immer aus. Nur einmal, als er Jan angesehen hat, da war es anders.
Am Freitagabend auf dem Nachhauseweg, da habe ich meinen großen Bruder gefragt, was er von Jens Torge hält. Andreas zuckte die Achseln.
»Er hat seine Frau verloren«, sagte er, »der ist völlig aus der Bahn geworfen.«
»Weißt du was Näheres?«, habe ich gefragt.
Doch auch Andreas wusste nichts Näheres.
Das Huhn schmeckt großartig. Die Rosmarinkartoffeln auch. Ich darf ein halbes Glas Wein trinken und finde das Leben gerade sehr angenehm.
Papa und Mama sind lieb zueinander.
Ich denke an Jan und an Oma. Alles wird gut.
39
Hanna ist in der Schule und ihre Nerven scheinen stabil. Als ich in die Klasse kam, standen Franziska und ihre Tussis um sie herum und bedrängten sie, doch Hanna wirkte dennoch gelassen. Warum hat sie mich nicht angerufen? Ich hätte ihr Personenschutz gegeben.
Hoffentlich hält sie diesmal durch und haut nicht wieder ab. Die Hettich steht heute jedenfalls nicht auf dem Stundenplan. Franzi hat uns genau im Auge. Wie herzig wir miteinander umgehen werden. Ich würde jetzt gern den Moment beschwören, den Hanna und ich auf ihrem rosa Sofa hatten, als wir My heart will go on in der Tiefe unserer Herzen hörten.
Da kommt Hanna auf mich zu. »Near, far, wherever you are«, singt sie leise in mein Ohr. Ich lächle.Wir gehören zusammen. Sie liest meine Gedanken und singt dazu. Ich muss ihr unbedingt erzählen, dass ich das Lied der Meermädchen spielen kann.
Heute haben wir acht Stunden. Ich muss also bis drei Uhr warten, um zu erfahren, dass bei Oma alles gut gegangen
ist. Ich denke nicht »ob«. Ich denke »dass«. Nur keine schlechten Gedanken zulassen. Wenn ich so weitermache, kann ich Franzis Traumfängertruppe beitreten, die sind ja alle auf diesem esoterischen Trip.
Eine Doppelstunde Deutsch. Gedichte, hat uns Hagen vorige Woche angekündigt. Die Klasse 8b ist nicht wirklich verrückt nach Gedichten. Und dann auch noch welche aus dem viktorianischen Zeitalter! Die Jungen maulen. Ich gebe zu, dass auch ich nicht gerade aufmerksam bin, obwohl Gedichte doch meinem Gemütszustand entsprechen müssten.
»Die Wende im Leben des Dichters Tennyson war ein Gedicht mit dem Titel In Memoriam «, sagt Hagen, »doch auch die Lady of Shalott gehört zu seinen großen Werken.«
Ich sitze mit geradem Rücken da und höre auf einmal gebannt zu. Gedicht? Tennyson? Da habe ich doch was im Internet gelesen.
»Ich nehme an, dass ihr keinen blassen Schimmer habt, wer diese Lady of Shalott ist«, sagt Hagen und seufzt schon mal vorab.
Ich melde mich und ahne noch nicht, dass die Lady nicht nur das Leben von Tennyson günstig beeinflusste, sondern auch meine Zensur in Deutsch zu neuer Blüte bringen wird.
»Das hat mit Camelot und der Artus-Sage zu tun«, höre ich mich sagen. »Waterhouse hat ein Bild gemalt, das genauso heißt.«
Der Hagen guckt mich an, als ob er mich zum ersten Mal sähe. Ich bin gut in Deutsch, doch meine Allgemeinbildung ist sonst durchaus lückenhaft.
»Du bist wirklich der Stern in dieser Nudelsuppe«, sagt Hagen.
Mag sein, dass ich jetzt seine ganze Bewunderung habe, doch die anderen scheinen an meinen beginnenden Wahnsinn zu glauben.
Am Ende der Doppelstunde drückt mir unser Deutschlehrer ein kleines Leinenbändchen in die Hand. Gedichte von
Weitere Kostenlose Bücher