Herzensjunge
Sie ist sicher der Typ, der gerne die Wahrheit in die Welt hinausblökt.
Papa packt ein paar Orangen und eine Flasche Traubensaft aus.
»Du wirst Wäsche brauchen, wenn du länger hierbleibst«, sagt er, »vielleicht gibst du mir jetzt doch mal den Schlüssel.«
Oma und ich gucken uns an. Auch Oma scheint überrumpelt. Ein Glück, dass Papa anfängt, eine Orange zu schälen, und abgelenkt ist.
»Meinen habe ich ja leider verlegt«, sagt Oma, »das weißt du doch. Darum habe ich euch ja um den Ersatzschlüssel gebeten.«
»Dann gibst du mir den zurück«, sagt Papa. »Deiner kann eigentlich nur bei dir in der Wohnung liegen. Gab es nicht sogar mal einen dritten? Hat Vater den vielleicht noch?«
Spricht Papa von meinem Großvater? Ist Oma nicht viel zu schwach für all diese Themen? Dass Papa immer so hartnäckig ist.
Oma lacht. Es ist noch nicht ihr volles Lachen. Ich hätte jetzt nichts dagegen, wenn die Schwester vom Type Hettich käme und sagte, dass Oma vor allem Ruhe braucht, und alle aus dem Zimmer triebe.
»Lieber Sohn«, sagt Oma, »dein Vater und ich sind seit zwanzig Jahren getrennt.Was soll er mit meinem Schlüssel in der Toskana?«
Da kommt mir die rettende Idee. Jedenfalls glaube ich das in dem Augenblick. »Ich bin doch sowieso jeden
Tag hier«, sage ich, »wenn Oma was braucht, gibt sie mir kurz den Schlüssel, und ich hole es ihr.«
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Papa misstrauisch geworden ist. Er legt Oma die Orangenviertel auf die Serviette, die auf ihrem Nachttisch liegt, und schweigt. Es ist ein beleidigtes Schweigen.
»Ja, so machen wir es«, sagt Oma.
»Antonia ist schon lange die Beste, nicht wahr?«, sagt Papa.
Kann es wirklich sein, dass er eifersüchtig ist? Auf mich?
43
Ich habe an Boden gewonnen in Deutsch. Der Hagen behandelt mich, als sei ich die Intellektuelle der Klasse. Höchste Zeit, dass Jan die Kunstbücher mitbringt, die seine Mutter ihm hinterlassen hat. Ich will die Bilder darin mit den Gedichten von Tennyson vergleichen und Montagmorgen gleich in der ersten Stunde damit glänzen.
Vor Jan und mir liegt ein weiteres Wochenende. Das zweite. Vielleicht wird es ein drittes geben. Ich will nicht, dass Oma länger krank ist. Doch ich freue mich auf jeden Tag mit Jan, an dem wir in der Wohnung sein können. Dieser Zwiespalt der Gefühle.
Mama wird an diesem Samstag mit einem Fotografen im Studio sein, um Liebespaare zu fotografieren. »Alles getürkt«, sagt Mama.
Die wahre Geschichte . Zum Totlachen. Da kommen Models und tun, als ob sie sich lieben. Und dann machen sie einen auf Drama, werfen Teller und verziehen das Gesicht, als würden sie weinen. Oder gucken einem Schiff hinterher. Das bedeutet dann Abschied.
Mama sagt, es könne spät werden bei ihr.
Ich weiß nicht, was Papa machen wird. Er muss nicht einmal auf Adrian aufpassen. Der ist auf einem Geburtstag mit Übernachtung eingeladen. Andreas wird sicher mit Lena nächtigen.Wo auch immer. Ich weiß auf jeden Fall, was ich am liebsten machen würde. Eine ganze Nacht mit Jan verbringen. Das wäre ein Traum. Ich habe Oma versprochen, das nicht zu tun. Doch wenn hier keiner wäre, der sich ängstigen könnte?
Denn nur darum geht es Oma doch.
Ob Hanna das mitmacht, mir ein Alibi für eine ganze Nacht zu geben?
Ist nicht ganz ungefährlich. Kann mir schon vorstellen, dass Papa bei Hanna anruft, um mich ans Telefon zu bitten und mir hirnrissige Fragen zu stellen. Er hat mich einmal bei einer Mittelstufendisco in der Schule ans Telefon des Hausmeisters holen lassen, nur um zu fragen, ob ich mir den Tacker ausgeliehen hätte. Ja. Hatte ich. Um die Dekoration in der Turnhalle anzutackern. Deswegen ruft man doch nicht beim Hausmeister an, der sich ohnehin dauernd belästigt fühlt.
Ich druckse auf dem ganzen Nachhauseweg um die entscheidende Frage herum. Hanna geht neben mir her und ahnt nichts.
»Hast du was vor am Samstag?«, frage ich. Ganz schlechter Einstieg. Ich werde nur Hoffnung in ihr
schüren, dass sie und ich was Schickes unternehmen. Hab das Gefühl, Hanna zu vernachlässigen. So wie sie es mit mir getan hat, als sie mit Kalli zusammen war.
»Vielleicht geh ich ins Kino«, sagt Hanna.
Komisch, dass sie nicht fragt, ob ich mitkommen will.
»Mit deinen Eltern?«, frage ich.
Jetzt druckst Hanna herum. Das kann doch wohl nicht sein, dass sie sich Kalli wieder angelacht hat.
»Ich wollte dich fragen, ob du mir ein Alibi geben kannst«, sagt Hanna.
Das ist ja wohl ein schlechter Scherz. Ich
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