Herzensjunge
Tennyson. Nicht dass ich sie jetzt auswendig lernen muss. Mich interessieren einzig und allein die Lady of Shalott und eine Frau namens Telse.
40
Oma ist auf der Intensivstation. Doch das sei normal nach einer großen Operation, sagt Papa. Er und ich fahren nach St. Georg.
Wir gehen durch viele Gänge, bis wir an die Tür der Intensiv kommen, und klingeln. Eine Schleuse, in der Schutzkleidung ausliegt. Häubchen. Kittel. Füßlinge. Nichts bleibt unbedeckt von unserer Straßenkleidung.
Oma scheint zu schlafen. Ein Haufen Apparate um sie herum. Sie liegt an Schläuchen. Ich habe ein Grummeln im Bauch, doch dann öffnet sie die Augen und erkennt uns.
»Schön, dass ihr da seid«, sagt sie leise.
Die Augen fallen ihr wieder zu. Ich streichle ihre eine Hand, in der Nadeln und Kanülen stecken. Papa die andere.
»Nun ist erst mal gut«, sagt eine Stimme hinter uns. Wir drehen uns um.
»Ihre Mutter braucht vor allem Ruhe«, sagt die Schwester, die auf den ersten Blick mit der Hettich blutsverwandt sein könnte. Sie hat doch keine Ahnung, was Oma braucht. Papa steht auf.
Später stehen wir an einem der großen Fenster und gucken in den Park. »Sie ist die beste Großmutter der Welt«, sage ich.
»Ja, das ist sie, Tonilein«, sagt Papa.
Tonilein. Das sagt Oma immer.
»War sie auch als Mutter so gut?«, frage ich.Wie komme ich darauf?
»Opa und sie haben sich alle Freiheiten genommen«, sagt Papa, »da bin ich manchmal auf der Strecke geblieben.«
Ich nehme seine Hand und drücke sie. Mir Papa als Kind vorzustellen, rührt mich enorm. Dass er überhaupt so sein Korsett lockert und mir das erzählt. Er gibt sonst nicht viel von sich preis.
»Ich liebe sie sehr,Tonilein«, sagt Papa, »ich liebe euch alle.«
Da schlinge ich meine Arme um ihn und drücke ihn. Ich bin kaum noch kleiner als er. Das schockiert mich geradezu.
Was hat Oma an dem Tag gesagt, an dem ich von der Operation erfahren habe? »Auch erwachsene Kinder haben es gar nicht gern, wenn ihre Eltern krank werden. Sie wollen sie stark und unsterblich.«
Und groß sollen sie sein und einen fest an der Hand halten.
41
Der November vor dem ersten Advent ist eine düstere Angelegenheit. Die Tage sind viel zu kurz. Kaum ist man aus der Schule gekommen und hat seine Nase zu Hause gezeigt, ist so ein Tag schon wieder fast vorbei. Jan und ich verbringen keine zwei Stunden in Omas Wohnung, da ist es schon wieder Zeit zu gehen.
Diese zwei Stunden verdanke ich ohnehin nur Hanna. Denn sonst käme ich von zu Hause kaum weg. Säße dort an meinem Schreibtisch und würde Hausaufgaben machen und Papa hockte dabei auf meiner Schulter wie der Rabe Abraxas. Jetzt mache ich meine Hausaufgaben offiziell bei Hanna und tatsächlich abends im Bett.
Hanna weiß als Einzige von meinem Liebesnest. Gott sei Dank ist sie eine große romantische Seele, daran hat auch ihre Zeit mit Kalli nichts geändert. Denn einen Romantiker kann man Kalli wirklich nicht nennen.
Ich bin nicht sicher, ob Hanna schon über ihn hinweggekommen ist. Obwohl sie so tut. Doch kürzlich kamen wir aus der Schule und er stieg gerade aus dem Bus. Kalli ist nicht mehr bei uns auf der Schule, seit dieser Sache mit der Knutscherei auf dem Handyfilmchen. Er geht jetzt auf dasselbe Gymnasium wie Jan. Dass die Kalli überhaupt wollten!
Tja.Wir sehen Kalli dort drüben an der Bushaltestelle stehen und dem davonfahrenden Bus nachgucken, da läuft Hanna auf einmal über die vierspurige Straße, die sie von Kalli trennt, dass ich glatt angefangen habe zu kreischen. Ich möchte meine Freundin nicht gern platt unter einem Auto liegen sehen. Gefolgt bin ich ihr
nicht. Weniger aus Angst, überfahren zu werden, doch Kalli kann mich mal. Musste ich nicht aus nächster Nähe sehen, wie sie ihn leidenschaftlich umarmt und er seine Arme bewegt, als sei er aus massivem Holz geschnitzt.
Hanna und ich haben uns dann an der Ampel fünfzig Meter weiter wiedergetroffen und kein Wort darüber verloren. Bis heute nicht. Ich glaube, wir würden uns sonst in die Haare kriegen.
Heute Nachmittag, nachdem ich meinen Apfelquark zu Hause gegessen hatte, fragte Papa mich, ob Hanna ihre Hausaufgaben nicht bald wieder alleine machen könnte. Sie müsste den Stoff doch längst aufgeholt haben, den sie versäumt hat, sagte er.
»Wir bereiten ein Referat über Tennyson vor. Das sollen Hanna und ich halten«, habe ich gesagt. Schnell und blitzgescheit, wie ich ab und zu bin.
»Alfred Tennyson? Der englische Dichter?«, fragte Papa.
Er
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