Herzensjunge
nur knapp verpasst haben, hat er mich geküsst und gesagt, wir hätten alle Zeit der Welt. Es war nur ein kleiner Kuss.Absolut tauglich für Bus und Bahn. Doch es war der allerschönste Satz der Welt.
»Ist dein Vater an diesem Wochenende da?«, frage ich.
»Ja«, sagt Jan, »er will Kartons auspacken. Doch er wird es wieder nicht tun. Ich glaube, er ist nur auf der Durchreise.«
Ich stelle das Glas hin und verfehle fast den Tisch.
Habe ich eben an Zukunft gedacht? Hat Jan gesagt, wir hätten alle Zeit der Welt?
»Und du?«, frage ich. »Bist du auch nur auf der Durchreise?«
Jan schüttelt den Kopf. »Ich will hierbleiben«, sagt er.
Einen Augenblick lang habe ich den verrückten Gedanken, dass Omas Wohnung ja groß genug wäre. Doch ich verwerfe ihn gleich.
»Wann ist deine Mutter gestorben?«, frage ich und fühle den Boden dünn werden unter mir. Wage ich mich zu weit vor?
»Im Juni«, sagt Jan.
Das ist noch kein halbes Jahr her. Das ist eben erst gewesen.
»Und deine Großeltern?«, frage ich.
»Das muss dir alles komisch vorkommen«, sagt Jan, »du mit deiner großen, heilen Familie.«
»Hast du keine mehr?«
»Einen Großvater. Der Vater meiner Mutter. Doch zu dem haben wir keinen Kontakt. Er ist nicht einmal zur Trauerfeier gekommen.«
»Die Eltern meiner Mutter wohnen am Niederrhein, also ziemlich weit weg«, sage ich. »Und mein anderer Opa lebt in der Toskana, also auch nicht gerade um die Ecke.«
Als ob ich auch was wenig Greifbares bieten wollte. Ich sehe Jan an. Heute hat er seine Mütze tief in die Stirn gezogen. Er zieht sie kaum aus. Nur bei Oma landet sie gleich auf der weißen Korbtruhe.
»Hast du morgen Nachmittag Zeit?«, frage ich. »Wir könnten einen Spaziergang um die Alster machen.«
Papa wird sich sicher daran erinnern, dass Oma mehr
frische Luft für mich vorgeschlagen hat. Damit wäre der Nachmittag alibimäßig schon mal geklärt. Ist nicht sogar Schnee angesagt? Zwei bis drei Hamburger Flocken?
»Wir könnten im Sessel sitzen und auf den See gucken«, sagt Jan, »ich will dir was zeigen.« Er ist nicht wirklich der Bewegungsfanatiker.
»Ein Kunstbuch mit den Bildern von Waterhouse«, sage ich.
»Das auch«, sagt Jan.
Vielleicht wird er morgen die Tür ein wenig weiter öffnen und mich hineingucken lassen in das Leben, das hinter ihm liegt. Es wäre so schön gewesen, einen langen Abend mit ihm zu teilen und die Nacht.
45
Das Leben ist eine Wundertüte. Ich hatte mich auf einen langweiligen Samstagvormittag eingestellt, der nicht anders als der von vergangener Woche abläuft: Papa geht mit Adrian zum Markt.Andreas schläft noch. Mama sitzt am Schreibtisch. Ich werde aufgefordert, den Tisch zu decken, und muss erst mal die Spülmaschine ausräumen, um an fünf Frühstücksteller zu kommen. Schließlich setzen wir uns alle um den Küchentisch und essen Sesambrötchen und Hagebuttengelee.
Doch es kommt anders. Ich bin noch nicht ganz wach, da höre ich schon die Stimmen von Papa und Andreas im Flur. Für meinen großen Bruder ist es sehr
ungewöhnlich, Samstagmorgen um halb neun nicht mehr im Bett zu liegen. Ist was mit Oma?
»Guck mal aus dem Fenster«, sagt Papa, kaum dass ich meine Nase aus dem Zimmer gesteckt habe.
Ich laufe zum Fenster und sehe eine weiße, stille Landschaft zwei Stockwerke unter mir. Keine dicke Decke, doch für Stadtschnee gut.
»Ich gehe mal auf den Dachboden und hole die Skier«, sagt Papa.
Ist das nicht übertrieben? Er kommt sicher auch in ganz normalen Schuhen zum Markt. Andreas deutet meine Miene richtig.
»Im Harz hat es heftig geschneit«, sagt er.
Mein großer Bruder ist der Einzige, der Papas Leidenschaft fürs Skifahren teilt. Alle anderen ziehen den Schlitten vor.
»Du kommst doch mit«, sagt Papa zu mir.
Ich habe nicht die geringste Lust, im November durch den Harz zu stapfen und mir Frostbeulen zu holen. Nein. Ich will mit Jan in Omas Sessel sitzen. Das ist mir Wintermärchen genug.
»Ich habe Hanna versprochen, dass wir heute das Deutschreferat fertig machen«, sage ich und komme mir schäbig vor. Papa ist ein Mensch voller Pflichtgefühl, gerade wenn es sich um schulische Veranstaltungen handelt. Er wird nicht widersprechen.
Papa ist enttäuscht. Mama hat ihre Fotoproduktion. Adrian will die Geburtstagsfeier seines besten Freundes nicht verpassen und jetzt lasse ich ihn auch noch hängen. Nur Andreas steht ihm zur Seite. Ich werfe meinem Bruder einen Blick zu. Ahnt er was?
»Lass uns mal eine Männerpartie machen,
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