Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Jesajas Schlafzimmer, trotzdem war deutlich zu erkennen, dass es sich um ein Büro handelte. Es war leer, niemand war zu sehen. Nach kurzem Zögern trat Hannah ein, zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah sich um.
Den schweren Samtvorhang entdeckte sie erst auf den zweiten Blick. Es kostete sie Überwindung, doch schließlich ging sie mit pochendem Herzen darauf zu. Sie konnte die Laute, die durch den Vorhang drangen, nicht länger ignorieren. Sie wurden immer lauter und ließen keinen Interpretationsspielraum.
Trotzdem klammerte sich Hannah an ihren letzten Funken Hoffnung. Sie konnte sich irren. Vielleicht sah sich Jesaja nur einen Film an, möglicherweise zusammen mit Aileen. Dass sie ihre Mitschülerin hier unten bisher nicht entdeckt hatte, fiel ihr erst jetzt auf.
Aber einen Porno? Denn genauso hörte es sich an.
Wollte sie überhaupt sehen, was sich jenseits des Vorhangs abspielte? Ahnte sie nicht längst, welch bittere Wahrheit auf sie wartete? Tief in ihrem Innern wusste Hannah, dass sie es bereuen würde, doch sie musste den Vorhang einfach beiseiteschieben.
Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden noch übertroffen.
Jesaja betrog sie auf einem Steinaltar mit drei Frauen gleichzeitig. Vielmehr mit drei Mädchen, nicht älter als sie selbst, eine wahrscheinlich sogar noch wesentlich jünger. Trotzdem verhielten sie sich völlig unbefangen, wie erfahrene Huren oder Pornodarstellerinnen.
Widerlich. Abstoßend.
Aileen kniete vor Jesaja, den Kopf in seinem Schoß.
Mit bestechender Klarheit wurde Hannah in diesem Augenblick bewusst, welche Rolle Aileen die ganze Zeit über gespielt hatte. Es gab keinen Zweifel. Ihre Mitschülerin hatte sie direkt in Jesajas Arme getrieben, und Hannah war ihm wie gewünscht verfallen. Er hatte mit ihr gespielt, sie beide hatten mit ihr ge spielt.
Und gewonnen. Zumindest beinahe.
Jesaja sah auf und begegnete Hannahs Blick. Kein Schock, keine Überraschung. Nur ein wissendes Lächeln. Obwohl er den Ausdruck des Abscheus in ihrem Gesicht sehen musste, streckte er ihr auffordernd die Hand entgegen.
Als sie den Kopf schüttelte, verzerrte sich sein Gesicht zu einer herablassenden Maske. Er zuckte die Schultern und winkte ab. Seine Hand grub sich in Aileens Haar und steuerte wieder die Bewegung ihres Kopfes. Hannah würdigte er keines Blickes mehr.
Eine Welle aus Scham und Wut überrollte sie. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie ballte die Hände zu Fäusten.
Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch kein Laut drang über ihre Lippen.
Nach einer Weile riss sie sich aus ihrer Erstarrung, ließ den Vorhang fallen und stolperte zurück in den Flur. Ihre Beine trugen sie allerdings nur bis zur Garderobe, wo sie auf den Boden sank, sich an der kalten Betonwand zusammenkauerte und ihren Tränen freien Lauf ließ.
»Ich habe versucht, dich zu warnen, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.« Selinas Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Sie war frei von Hohn, klang aber auch nicht sonderlich mitfühlend.
Durch den Tränenschleier sah Hannah, wie Jesajas Schwester im Durchgang zum Flur stehenblieb. Sie blickte auf sie hinunter, schien aber nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollte. »Du solltest dir selbst zwei Gefallen tun: von hier verschwinden, bevor er mit seiner Orgie fertig ist und entdeckt, dass du noch da bist. Und ihn vergessen.«
»Ich verzichte auf deinen Rat«, murmelte Hannah trotzig.
Die patzige Antwort entlockte Selina nur ein Schulterzucken. »Sein Portemonnaie liegt in der Küche, oben links im Schrank. Nimm dir, was du für ein Taxi brauchst. Das ist das Min deste.«
Das Mindeste wofür, fragte sich Hannah stumm. Für die Erniedrigung? Den Schmerz? Den Verlust ihrer Jungfräulichkeit? Als sie die Fragen doch noch laut aussprechen wollte, war Selina allerdings schon wieder verschwunden. Sie war alleine.
Hannah blieb noch einige Minuten sitzen. Während sich Kummer und Wut abwechselten, fragte sie sich immer wieder, wie sie nur so verdammt blind hatte sein können. Sie hatte sich von Tobias wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen.
Den Selbstvorwürfen folgten erneut zornige Gedanken. Sie drehte sich zunehmend im Kreis. Schließlich musste sie einsehen, dass Selina zumindest in einem Punkt recht hatte: Hier sitzenzubleiben setzte sie nur der Gefahr aus, ihm noch einmal zu begegnen, und darauf konnte sie nun wirklich verzichten.
Sie kämpfte sich auf die Beine zurück, ging in die Küche und öffnete den Schrank. Sie fand
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