Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
trog, und suchte verzweifelt nach Liebe und Zärtlichkeit in Jesajas Tun. Sie hatte sich die Schmerzen zwar nicht eingebildet, vielleicht waren sie aber auch normal, etwas, das sich geben würde, wenn sie nur öfter mit Jungen schlief?
Trotzdem: Er war nicht zärtlich gewesen, nachdem er in sie eingedrungen war. Hatte er es ihr zuliebe schnell machen wollen? Oder hatte er sich vielleicht doch nur an ihr befriedigt? Hätte er nicht langsam und vorsichtig sein und im Zweifel aufhören müssen? Hatte sie nicht sogar gewollt, dass er aufhörte, es in ihrem Zustand aber nicht mehr geschafft, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen?
Sie hatte den ganzen Tag im Internet verbracht und versucht, sich ein Bild von dem zu machen, was sie am Abend zuvor erlebt hatte. Dabei war sie ungefähr auf genauso viele Darstellungen und Erlebnisberichte wie Meinungen gestoßen. Trost hatte sie keinen gefunden. Die Tatsache, dass sie nur ein Mädchen von vielen war, die Ähnliches erlebt hatten, empfand sie als wenig beruhigend.
Sie musste Jesaja zur Rede stellen. Es gab keinen anderen Weg. Ohne ihm Vorwürfe zu machen. Um ihre Beziehung nicht zu gefährden. Falls sie denn überhaupt zusammen waren. Er hatte ihr viele Komplimente gemacht, ihr geschmeichelt, aber auch keine klare Aussage über ihr Verhältnis getroffen. Sie selbst hatte es nicht gewagt, das Thema anzusprechen.
Immer wieder hörte sie Selinas Stimme, so laut und deutlich, als stünde die junge Frau direkt neben ihr. Er wird dir das Herz brechen.
Trotzdem hatte Hannah noch immer Hoffnung, was Jesaja und seine Absichten anging. Hätte er sie sonst heute Abend in diesen von kasernenartigen Häusern dominierten Stadtteil bestellt? Er hatte nur vage Andeutungen gemacht, irgendetwas Besonderes sollte sie dort erwarten. Er hätte sie bestimmt nicht noch einmal eingeladen, wenn er sie letzte Nacht nur benutzt hätte. Zumindest versuchte sie sich das einzureden. Sicher war sie sich nicht.
Aileen hatte nämlich erwähnt, dass sie heute Abend ebenfalls dort sein würde. Ihre Schulkameradin gab ihr inzwischen auch immer mehr Rätsel auf. Sie hörte sich Hannahs Erzählungen an und schien an der Entwicklung der Beziehung zwischen ihr und Jesaja besonders interessiert zu sein. Hannah hatte aber manchmal das unbestimmte Gefühl, dass Aileen schon vorher über alles Bescheid gewusst hatte.
Was erwartete sie an dem ihr noch unbekannten Ort? Wieso würde Aileen dort sein? Und was genau plante Jesaja?
Ganz gleich, was er vorhatte, zuallererst musste Hannah mit ihm über den gestrigen Abend sprechen. Dann würde sie hoffentlich wissen, woran sie mit ihm war.
Sie stieg aus dem Bus und erreichte zum vereinbarten Zeitpunkt den Supermarkt. Nur vereinzelte Autos standen noch auf dem Parkplatz. Es war Samstagabend nach zwanzig Uhr, und die meisten Menschen saßen vermutlich bereits vor dem Fernseher. Hannah folgte Jesajas Beschreibung um das langgezogene Gebäude herum und fand die Treppe, die in den Keller führte.
Erneut fragte sie sich, warum er sie direkt hierher bestellt hatte und warum Aileen nicht mit ihr gekommen war. Was mochte sie dort unten erwarten? Hatte es etwas mit der Gruppierung zu tun, der die beiden angehörten?
Es gab Lichtschächte an den Seiten des Hauses, doch kein Zeichen von Licht in den unterirdisch gelegenen Räumen. Trotzdem, hier musste es sein. Hannah hatte die Anweisungen genau befolgt.
Unsicher ging sie die Treppe hinunter und drückte auf die Klinke. Die schwer aussehende Metalltür sprang auf, und dämmriges Licht ergoss sich nach draußen.
Hannah spähte hinein, erinnerte sich aber an Jesajas Warnung, nicht zu lange draußen vor der Tür herumzustehen. Der Vermieter wollte nicht, dass die Kundschaft des Supermarkts bemerkte, was im Keller vor sich ging, hatte er gesagt. Also trat sie ein.
Sie befand sich in einem schwarz gestrichenen Raum, der offenbar als Garderobe diente. Eine einfache Glühbirne baumelte an einem Kabel von der Decke. Mehrere Jacken hingen an den Haken, die dunklen Stoffe verschmolzen optisch beinahe mit der Wand. Trotzdem erkannte sie Jesajas Wintermantel, und auch Aileens mit Spitze und Tüll verzierte Jacke hing dort.
Die Tür vor ihr war geschlossen, die zu ihrer Rechten stand offen und führte in eine kleine Küche, die abgesehen von den mit Drachensilhouetten und Totenschädeln verzierten Krügen, die auf der Spüle zum Trocknen standen, ganz normal aussah.
Trotzdem wagte Hannah nicht, auch nur einen Schritt zu tun. Jesaja hatte
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