Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Fiedler befreit werden, bevor ihr Entführer überhaupt mit ihr hier eintraf.
Jennifer blätterte weiter und überflog Drachs Notizen. Es waren unzusammenhängende Gedanken, deren Sinn sich ihr nicht sofort erschloss. Es ging um seine Taten, seine Pläne, deren Umsetzung, die Wirkung, die er sich erhofft hatte, und welches Ergebnis bei den ersten drei Opfern letztlich eingetreten war.
Langsam kristallisierte sich heraus, dass Doktor Rabe mit seiner Einschätzung recht gehabt hatte. Jürgen Drach schien davon überzeugt zu sein, keine Gefühle empfinden zu können, glaubte aber, dass er sie durch die Menschen, die er umbrachte und deren Herzen er konservierte, erlangen konnte. Er bewahrte ihre Gefühle für sich selbst auf, damit sie auf ihn übergehen konnten.
Offenbar war er davon überzeugt, dass das tatsächlich funktionierte. Er glaubte, dass Larissa Schröder ihm die Fähigkeit verliehen hatte, Liebe zu empfinden, dass Cedric Mattes ihn Hass gelehrt und das konservierte Herz von Horst Neubert ihm Freude geschenkt hatte. Trotzdem war er mit den Ergebnissen nicht zufrieden. Die Wirkung war nicht so stark, wie er sie sich vorgestellt, nicht so intensiv und prägend, wie er gehofft hatte.
Er hatte in seinen Notizen darüber zu phantasieren begonnen, die Herzen zu verspeisen, mehrere Menschen auf einmal zu töten, seine Methode zu intensivieren. Immer weiter hatte er sich in diese Ideen hineingesteigert, bis er sich selbst abrupt zur Ordnung gerufen und entschieden hatte, sein Projekt durchzuziehen und auf eine verzögerte Wirkung zu hoffen.
Hatte er all diese Zeilen, die scheinbar zusammenhanglos über mehrere Blätter verteilt waren, am Stück geschrieben? Jennifer hatte einen Mann vor Augen, der manisch auf den kalten Fliesen kniete und nicht ganz bei sich war, während er diese wirren Gedankengänge auf Papier krakelte.
Weitermachen. Abschließen. Warten. Die Gefühle sind da, aber verschlossen. Müssen besser herausgearbeitet werden … Frischer vielleicht? Zu viel Theater? Zu indirekt? Weiter, ja, weiter, aber verbessert, direkter … Ja …
Wieso hatte er all das überhaupt aufgeschrieben?
Es gab genügend Täter, die beinahe akribisch Buch über ihre Taten führten. Die einen, weil sie der Nachwelt etwas hinterlassen wollten, die anderen, weil sie die frischen Erinnerungen festzuhalten versuchten, um sie immer wieder von Neuem durchleben zu können.
Bei Jürgen Drach schien es eher eine Art Zwang zu sein. Vielleicht litt er an Gedächtnisstörungen. Wenn er ein Opfer von Wilfried Mertens war und eine Gehirnverletzung erlitten hatte, konnte das durchaus sein. Vielleicht war es aber auch nur ein weiteres Symptom seiner Störung.
Keine Umwege mehr … Brauche das Labor nicht zwingend für Nummer vier … Ihre Trauer … Frisch aufgefangen mit ihrem Blut, ja, IHR BLUT , und wenn ich dann ihr Herz herausschneide … Keine Umwege mehr … Vielleicht sollte ich es filmen … Auf Film gebannt für alle Ewigkeit …
Jennifer las den letzten Absatz ein zweites und ein drittes Mal. Sie spürte, wie sich in ihrem Magen ein Klumpen bildete. Ihr Blick fiel auf die leeren Kleiderständer. Hätte dort nicht ein aufwendiges Kleid hängen müssen, so wie auf der Bleistiftzeichnung dargestellt? Drach hatte es sehr detailliert skizziert, und es war unwahrscheinlich, dass er den Plan verworfen hatte.
Was war mit den Schuhen und dem Schmuck? Was mit den Engelsflügeln? Jennifer musste an Larissa Schröders Aufmachung denken. Ohne Vorbereitung war es unmöglich, jemanden derart auszustaffieren. Sie hätten irgendetwas finden müssen. Hier in diesem Raum oder irgendwo im Gebäude.
Sie hatten auch nirgendwo eine Kamera entdeckt. Keine Lampen, wie man sie für eine ordentliche Studiobeleuchtung braucht, keine Schirme für indirektes Licht. Vielleicht führte Drach das alles in seinem Transporter ständig mit sich, andererseits war es ein verdammt teures Equipment, das man nicht ohne Grund in der Gegend herumchauffierte.
Drach hatte nicht vor, in seine Werkstatt zurückzukehren. Nicht dieses Mal.
Jennifer nahm wieder die Skizze mit der Friedhofsszene zur Hand.
Keine Umwege. Frisch aufgefangen mit ihrem Blut.
»Verdammte Scheiße«, murmelte sie, bevor sie ihr Handy aus der Hosentasche zerrte und Thomas Kramers Nummer wählte.
Oliver sah sie fragend an. Ihre Reaktion zeigte, dass sie auf irgendetwas gestoßen sein musste.
Sie ließ Thomas nicht einmal Zeit für eine Begrüßung. »Wo steckt ihr mit dem
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