Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
linken Arm und begutachtete die bleiche Haut, wie ein Arzt, der die passende Vene für einen Einstich sucht.
Sie zuckte nicht einmal zusammen, als er die Klinge ansetzte und ihr einen tiefen Schnitt am Handgelenk zufügte. Ihr Körper reagierte nicht mehr auf den Reiz. Selbst den Schmerz nahm sie nur noch als dumpfen Druck wahr.
Ihr Blut quoll dick und dunkelrot aus dem Schnitt hervor. Er ließ den Arm nach unten über das Glasbehältnis sinken, das er in ihrem Schoss abgestellt hatte, und fing die Flüssigkeit auf, die viel langsamer aus der Wunde floss, als sie erwartet hätte. Wahrscheinlich eine weitere Wirkung der Droge, die er ihr eingeflößt hatte. Das Mittel musste ihren Blutdruck extrem stark gesenkt haben.
Er wartete geduldig und wirkte dabei so teilnahmslos, als ob er Bier oder Benzin zapfen würde. Schließlich verstärkte er seinen Griff um ihren Arm, sodass der Blutfluss für einen kurzen Moment gestoppt wurde, gerade lange genug, um ihre Hand zurück auf den eisigen Boden sinken zu lassen. Ihr Blut färbte das unschuldige Weiß des Schnees tiefrot.
Selina war vollkommen gebannt von dem Anblick. Das Arrangement entsprach fast bis ins letzte Detail dem Bild, das sie zuletzt gemalt hatte. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie hatte die Vorlage für ihren eigenen Tod geschaffen.
Sie hörte ein Schlucken und zwang ihre Augäpfel dazu, sich zu bewegen, bekam aber nur ein schummrig verzerrtes Bild ihres Peinigers zu Gesicht. Trotzdem erkannte sie, dass er aus dem Glasbehältnis trank. Er trank ihr Blut. Wie ein verdammter Vampir.
Grauen packte sie, und die neu entflammte Angst spülte den letzten Rest rationalen Denkens hinweg.
Er hatte ausgetrunken, griff wieder zum Skalpell und packte Selina an der Schulter. Die Klinge bewegte sich in Richtung ihres Brustbeins.
Er würde sie aufschneiden.
Hier. Jetzt.
Ihre Lippen zitterten, doch sie brachte sie noch immer nicht auseinander. Ihr Schrei hallte in ihrem Schädel wider.
Sie hörte, wie die Klinge den Stoff teilte, und spürte noch den undeutlichen Druck beim ersten Schnitt.
Danach folgte Dunkelheit.
19
Sie stellten Jennifers Auto am Straßenrand ab, direkt an der Zufahrt.
Das Licht auf dem Friedhof war schon von Weitem zu sehen. Wie erwartet war der Weg, der von der Straße in den Wald hineinführte, ziemlich zugewachsen, doch es gab frische Fahrspuren im Schnee. Vorsichtig näherten sie sich zu Fuß dem Geräusch, das dem eines laufenden Automotors ähnelte.
Sie erreichten die Überreste eines schmiedeeisernen Tores, das einst eindrucksvoll am Friedhofseingang aufgeragt haben musste, jetzt aber verrostet in seiner Verankerung hing und von Efeu überwuchert war.
Sie betraten den Friedhof und konnten den Spuren des Transporters mühelos zwischen hohen Bäumen und wuchernden Sträuchern hindurch folgen. Drachs Wagen parkte neben Grabsteinen, die so stark verwittert waren, dass ihre Form unter dem Schnee nur noch zu erahnen war.
Neben der Motorhaube des dunkelblauen Sprinters stand ein tragbarer Generator. Von dem Gerät verliefen Kabel zur Mitte des Friedhofs, wo sie offenbar Strom für mehrere Studiolampen lieferten, die einen kleinen Bereich in grelles Licht tauchten.
Sie kamen nicht zu spät. Selina Fiedler war noch am Leben.
Von der hinteren Stoßstange des Transporters aus konnten sie sehen, dass Drach die junge Frau entsprechend seiner Skizze an einen Grabstein gelehnt und in Position gebracht hatte. Sie trug ein pompöses schwarzes Kleid und dunkle Schwingen auf dem Rücken. Er hatte ihr einen Schnitt am linken Handgelenk zugefügt. Selbst aus dieser Entfernung war das Blut zu sehen, das als dünner Strom im Schnee versickerte.
Drach hockte über seinem Opfer und bereitete sich offenbar auf den nächsten Schritt vor, der unverkennbar auf ihren Brustkorb abzielte.
Jennifer musste ihre Entscheidung binnen Sekunden treffen. Sie warf Oliver nicht einmal einen Blick zu. »Geh irgendwo in Deckung und bleib dort. Ruf Möhring an. Sag ihm, wir haben sie. Ich regle das inzwischen.«
Er fragte nicht, was sie genau vorhatte. Die Pistole in ihrer Hand sagte alles. »Sei vorsichtig.«
Jennifer glitt neben den Transporter und bewegte sich langsam vorwärts. Sie setzte jeden Schritt mit Bedacht, trotzdem klang das Knirschen des Schnees in ihren Ohren so laut wie ein Tier, das durchs Unterholz prescht. Zwar stand der Wagen im Dunkeln, und sie ging davon aus, dass Drach sie nicht würde sehen können, da seine Augen an die Festbeleuchtung der
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