Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Sogar das Buffet stand auf einem schwarzen Tischtuch.
Nur die Gemälde, die in opulent gestalteten Rahmen an den Wänden hingen, waren farbig. Sie zeigten Frauen, Männer und Phantasiewesen in düsterer, teilweise phantastischer Umgebung, die nachdenklich bis schwermütig dreinschauten oder weinten. Trauer und Trübsinn schienen die zentralen Themen zu sein. Die Szenen waren so intensiv, dass allein ihr Anblick genügte, um Hannahs Stimmung zu dämpfen.
Ihr Blick fiel auf eine Bühne im hinteren Teil der Halle, auf der eine Staffelei mit einem weiteren Bild stand, das allerdings von einem großen Tuch aus schwarzem Samt verhüllt war. Offensichtlich hatte Aileen sie auf eine Art Vernissage mitgenommen.
Sie wollte ihre Mitschülerin gerade fragen, wer denn der Künstler sei, als ein schlanker Mann auf sie zugesteuert kam. Mit schwarzer Hose und einem dunkelroten Satinhemd war er recht einfach gekleidet. »Aileen!«
Noch bevor er sie richtig begrüßen konnte, fragte Aileen alarmiert: »Was macht denn der Fotograf hier?«
Hannah verstand nicht sofort, um wen es ging, bis sie einen schlaksigen Kerl entdeckte, der sich wie ein Schatten durch die Menge bewegte und mit einer teuer aussehenden Kamera Fotos schoss.
»Ich würde sagen, er macht Bilder von der Veranstaltung?«, erwiderte Aileens Gesprächspartner mit fragendem Unterton. Seine Stimme war dunkel und angenehm.
»Das halte ich für keine gute Idee.« Aileen verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick ruhte auf dem Mann mit der Kamera, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wäre sie am liebsten zu ihm hinübergegangen, um ihm eigenhändig den Hals umzudrehen. »Du weißt doch gar nicht, wo die Fotos anschließend landen!«
»In einem Bildband, allerhöchstens.« Aileens Bekannter zuckte die Schultern. »Hier drin ist es so dunkel, dass auf den Fotos nicht allzu viel zu erkennen sein dürfte. Außerdem geht es ihm primär um die Bilder und die Skulpturen. Er hat einen Narren an meiner Schwester gefressen. Mach dir keine Sorgen.« Das Lächeln des Mannes hätte Eis zum Schmelzen bringen können. Aileens Gesichtszüge entspannten sich sichtlich. Ihr Widerstand bröckelte schließlich vollends, als er ihr einen Arm um die Schulter legte und sie kurz an sich drückte. Dann wandte er sich Hannah zu. »Anstatt dir deinen hübschen Kopf über derartige Banalitäten zu zerbrechen, solltest du mir lieber deine Begleitung vorstellen.«
Bei den letzten Worten sah er Hannah tief in die Augen. Sie wäre unter seinem intensiven Blick beinahe zurückgezuckt.
»Das ist Hannah. Eine Schulkameradin.«
Hannah konnte sich nicht rühren. Ihre Kehle fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an.
Noch bevor sie sich wieder gefangen hatte, ergriff er ihre Rechte, hob sie an seine Lippen und drückte einen flüchtigen Kuss auf ihren Handrücken. Beiläufig nahm sie wahr, dass er einen ähnlichen Ring wie Aileen am Zeigefinger der rechten Hand trug. »Ich bin Jesaja«, hauchte er. Sein Daumen strich zärtlich über ihre Fingerknöchel, bevor er ihre Hand losließ. »Herzlich willkommen auf unserer kleinen Feier.«
Noch immer brachte sie keinen Ton heraus. Es dauerte einen Moment, bis Hannah endlich erkannte, was sie eigentlich so irritierte: Jesajas Augen. Die Farben waren unterschiedlich. Sein rechtes Auge war blau, das linke grün. Kontaktlinsen, vermutete sie, trotzdem fiel es ihr schwer, sich von dem Anblick zu lösen.
Jesajas Lächeln wurde noch eine Spur einnehmender. Kleine Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen. »Was hat dich hierher geführt?«
»Ich … äh … Aileen …« Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie darauf antworten sollte.
Ihre Mitschülerin kam ihr zu Hilfe. »Die üblichen Gerüchte.«
»Ah, die üblichen Gerüchte«, wiederholte er mit einem Nicken. »Und trotzdem hast du dich hierher getraut?«
Endlich schaffte es Hannah, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. »Ich will mich selbst überzeugen, ob an dem Gerede irgendwas dran ist.«
»Hm.« Jesaja musterte sie derart eindringlich, dass sie den Wunsch verspürte, sich mindestens zwei Schritte von ihm zurückzuziehen. Dann endlich sagte er: »Entdeckergeist und Abenteuerlust. Keine Angst, das gefällt mir.«
Sein Blick zuckte kurz zu Aileen, als diese mit einer Geste seine Aufmerksamkeit einforderte. Jesaja zog eine altmodisch aussehende Taschenuhr aus seiner Hose, die in seinen feingliedrigen Händen vollkommen deplatziert wirkte. »Ihr seid gerade rechtzeitig gekommen. Es ist
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