Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
so weit.« Er nickte Hannah übertrieben zu, dann verschwand er in der Menge.
Hannah sah ihm nach. Erst als sie sein dunkelrotes Hemd endgültig aus den Augen verloren hatte, wandte sie sich wieder Aileen zu. Die lenkte ihre Aufmerksamkeit jedoch sofort in Richtung Bühne.
Jesaja erschien auf dem Podium, über dem nun weitere Lampen aufflammten, sodass die Bühne in helles Licht getaucht wurde. Die Gespräche im Saal verstummten. Die Anwesenden wandten sich ihrem Gastgeber zu, und augenblicklich erfüllte eine deutlich spürbare Anspannung den gesamten Raum. Sie alle mussten diesen Moment schon fast sehnlich erwartet haben.
Hannah fühlte sich zwischen diesen vielen Menschen, die voller Ehrfurcht in Richtung Bühne stierten, plötzlich vollkommen verloren. Ihre Anwesenheit erschien ihr auf einmal schrecklich falsch. Sie war das eine einsame Tier inmitten einer fremden Herde.
Auf der Bühne öffnete Jesaja beide Arme zu einer dramatischen Geste und blickte regungslos auf seine Gäste hinab. Hannah hatte den Eindruck, dass er ihr direkt ins Gesicht starrte. »Ich danke euch allen für euer Kommen. Mir scheint, es werden jedes Mal mehr, und ich freue mich sehr über den Zuwachs. Ich hoffe, ihr habt einen angenehmen Abend, und ich möchte ihn auch nicht durch unnötiges Geplänkel verderben. Denn selbstverständlich weiß ich, warum ihr gekommen seid.«
Er legte eine Kunstpause ein. Hannah konnte körperlich spüren, wie die Spannung im Saal stieg und auch auf sie übersprang. Warum war sie hier? Wieso hatten sich all diese Menschen hier versammelt? Sie stand kurz davor, ihre Fragen laut herauszuschreien, als Jesaja sie und alle anderen endlich erlöste.
»Heißt unseren dunklen Stern in unserer Mitte willkommen! Jezebel, meine Schwester, die Königin der Melancholie!«
Es war so still geworden, dass das Rauschen von Stoff und das Klacken von Absätzen unnatürlich laut durch den Saal hallten. Eine Frau, die vermutlich auch alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte, wenn sie nicht der Star des Abends gewesen wäre, trat zu Jesaja auf die Bühne.
Sie war jung und atemberaubend schön. Ihre Haut hatte die Farbe von Elfenbein, das Licht betonte ihre hohen Wangenknochen, und ihre Augen leuchteten beinahe unnatürlich. In dem bombastischen Kleid aus Tüll und Spitze, das ihrer zierlichen Figur perfekt schmeichelte, schien sie geradezu über die Bühne zu schweben. Ihr schwarzes Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, und nur einzelne gelockte Strähnen fielen ihr auf den Rücken.
Die Königin der Melancholie.
Jesajas Ankündigung war keineswegs übertrieben gewesen. Ihre Haltung war stolz und aufrecht, doch ihre Gesichtszüge und ihre Augen vermittelten eine tiefe Traurigkeit, die Hannah so intensiv berührte wie die Werke, die die Hände dieser Frau geschaffen haben mussten.
Jezebel. Jesajas Schwester.
Ihre richtigen Namen waren das jedenfalls nicht. Sie lieferten aber eine perfekte Show ab.
Jezebel trat zu ihrem Bruder und ließ den Blick über die Menge schweifen, ohne sichtbar Notiz von den Menschen zu nehmen. Sie blieb stumm, während Jesaja erneut das Wort ergriff.
»Ihr neuestes Werk: Gefallener Engel!« Er zog den schwarzen Stoff von dem Bild auf der Staffelei und ließ ihn zu Boden gleiten. Zum Vorschein kam ein Gemälde, das mit derselben Technik wie alle anderen Werke im Raum geschaffen worden war.
Es zeigte eine junge, dunkelhaarige Schönheit mit schwarzen Schwingen auf dem Rücken, die an ein verwittertes Steinkreuz gelehnt im Schnee saß. Ihre Augen starrten leblos ins Nichts. Ihre Haut war so bleich, dass sie beinahe mit der Farbe des Schnees verschmolz. Nur ihre Lippen waren blutrot.
Sie war tot. Eine Träne war auf ihrer Wange zu Eis gefroren. Das schwarze Kleid war in Höhe ihrer Brust zerfetzt, die Verheerungen darunter lagen im unsichtbaren Dunkel. Blut war ihren rechten Arm hinuntergelaufen und hatte eine tiefrote Spur im Schnee hinterlassen, bis es schließlich versickert war. Vor ihrer Hand, die leblos herabgesunken war, lag ein menschliches Herz.
Ihr Herz.
Sie hatte es sich eigenhändig aus der Brust gerissen.
9
Der Montag begann mit einer bösen Überraschung. Als Oliver im Hof des Präsidiums zu Jennifer ins Auto stieg, bemerkte sie sofort, dass er nicht nur müde, sondern auch ziemlich schlecht gelaunt war. Er hatte gerade eine Besprechung mit dem Oberstaatsanwalt gehabt, die offensichtlich alles andere als angenehm verlaufen war.
Da er nichts sagte, startete sie
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