Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
gegönnt.
Hier tatenlos herumzusitzen und zu warten zehrte an Jennifers letzten Reserven. Sie überlegte gerade, ob sie aufstehen und eine Runde durch das Zimmer drehen sollte, um sich am Einschlafen zu hindern, als endlich die Tür in ihrem Rücken geöffnet wurde und der Doktor eintrat.
Er ließ eine dunkelblaue Mappe auf den beachtlichen Stapel Unterlagen in der Mitte des Schreibtischs fallen, wodurch die Papiere ins Rutschen gerieten und der Stapel gefährlich Schlagseite bekam, aber nicht umstürzte.
Der Doktor begrüßte die beiden Beamten nicht, sondern ließ sich auf seinen Stuhl fallen, lehnte sich entspannt zurück und musterte sie intensiv.
Doktor Rabe war knapp über sechzig, nicht besonders groß und schob einen sichtbaren Bauchansatz vor sich her. Die Brille mit den runden Gläsern saß ihm etwas schief auf der Nase, und sein graues Haar unterlag scheinbar ganz eigenen Gesetzen. Er wirkte ein bisschen wie ein zerstreuter Professor, ein Eindruck, der allerdings täuschte. Rabe war ein brillanter Spezialist in Psychopathologie und ein Experte im Einschätzen und Profiling von Mördern.
Für gewöhnlich arbeitete er in Forschung und Lehre, wurde aber von Ermittlungsbehörden aus ganz Deutschland des Öfteren um seine Meinung zu einem Fall gebeten. Jennifers Verbindung zu ihm war erst im letzten Jahr über Professor Meurer zustande gekommen, als sie sein Wissen benötigt hatte, um den »Künstler« aus psychiatrischer Sicht einordnen zu können.
Jetzt brauchten sie erneut seine Hilfe.
Vor dem Wochenende hatten sie ihm nur ein paar grobe Daten über ihren Fall und die Fragestellung zukommen lassen. Noch hatten sie keine Gelegenheit gehabt, ihn darüber zu informieren, dass sich die Umstände gravierend geändert hatten. Doch er las bereits genug aus ihren stummen Gesichtern.
»Es hat eine Wendung gegeben«, stellte er nüchtern fest. »Eine Wendung, die Sie zweifellos befürchtet haben, sonst hätten Sie mich nicht angerufen.«
Oliver nickte. Er kannte bisher nur die Gutachten, die Doktor Rabe im Zuge der Ermittlungen im letzten Jahr erstellt hatte. Es war seine erste persönliche Begegnung mit dem Psychologen, und er hatte Mühe, seine Irritation über dessen Verhalten und Beobachtungsgabe nicht zu deutlich zu zeigen. »Das stimmt. Es gab einen weiteren Toten.«
»Einen Toten?«, hakte der Doktor interessiert, aber nicht gerade überrascht nach. »Ein Mann?«
»Ja.«
»Erzählen Sie.« Der Psychologe beugte sich vor und legte die gefalteten Hände auf den Rand des Schreibtischs, wo gerade noch genug Platz zwischen all den Unterlagen war. »Was haben Sie, wo stehen Sie? Setzen Sie mich umfassend in Kenntnis. Ich möchte alles wissen, auch die Kleinigkeiten, die Ihnen vielleicht nebensächlich erscheinen.«
Oliver schwieg einen Moment lang perplex. Die Aufgabe überforderte kurzfristig seinen übermüdeten Verstand. Dann begann er die gesamten Umstände des Falles zu erläutern, so zusammenhängend und chronologisch wie möglich, während Jennifer nur an der einen oder anderen Stelle ein Detail hinzufügte. Doktor Rabe hörte schweigend zu und hakte nur ab und an nach.
»Unser zweites Opfer ist freiberuflicher Autor, der sich als Psychologe ausgab, es aber tatsächlich nie zu einem Diplom geschafft hat. Er lebte noch im Haus seiner Mutter. Niemand konnte uns sagen, ob er sich mit jemandem treffen wollte. Er war in letzter Zeit aber sehr oft unterwegs, mutmaßlich für sein nächstes Buchprojekt. In seinem Kalender befinden sich einige Einträge, allerdings in Form kryptischer Abkürzungen, die wir bisher nicht entschlüsseln konnten.« Der Staatsanwalt hielt kurz inne, bevor er die Ergebnisse der letzten beiden Tage grob zusammenfasste: »Wir haben versucht, eine Verbindung zwischen den beiden Opfern zu finden, aber ohne Erfolg. Beiden wurde das Herz entnommen. Sie sind offensichtlich demselben Täter zum Opfer gefallen.«
Der Doktor dachte einen Moment lang nach, bevor er seine Brille absetzte und sich die Nasenwurzel rieb. »Grundsätzlich stimme ich Ihrer Schlussfolgerung zu. Zwischen den beiden Morden besteht ein direkter Zusammenhang. Die Frage ist nur, welcher Art.«
»Was ist mit einem Doppelmord?«, fragte Grohmann, obwohl er diese Hoffnung selbst schon so gut wie aufgegeben hatte.
»Das wäre theoretisch möglich«, stimmte Doktor Rabe ihm zu. »Allerdings hätten Sie dann längst irgendeine Verbindung zwischen den Opfern finden müssen.«
Jennifer hätte am liebsten aufgestöhnt,
Weitere Kostenlose Bücher