Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
im Ernst annehmen, dass er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Es ging wohl eher um das andere Wort mit „L“: Lust. Das war etwas Konkretes, womit sie beide etwas anfangen konnten.
Roxy bog scharf nach rechts von der Straße ab. Einen richtigen Weg gab es nicht, nur zwei Fahrspuren, die durch dichtes kurzes Gras führten. Sie drosselte das Tempo, während sie einer S-Kurve folgte, und wurde dahinter noch langsamer, weil sie mit dem Wagen zwischen hohen immergrünen Büschen hindurchfahren musste. Dahinter lag Calliopes restauriertes altes Farmhaus, ein bescheidenes, aber schmuckes zweigeschossiges Gebäude.
Calliope hatte diesen Platz mit sehr viel Umsicht ausgewählt. Die Bäume und das Buschwerk schützten die zwei Morgen Land nordöstlich von Toronto. Zu jeder Jahreszeit war das Haus vor neugierigen Blicken geschützt. Und hinter der natürlichen Barriere verbarg sich eine wahre Oase. Der Rasen war frisch gemäht, der Garten gepflegt. Das Haus selbst wirkte mit der hellgelb gestrichenen Veranda sehr einladend.
Als Roxy vor Jahren zum ersten Mal hier gewesen war, war sie aus dem Staunen nicht herausgekommen. „Wer hätte gedacht, dass hier jemand lebt, der Mitglied der …“ Sie war rasch verstummt und hatte sich auf die Lippe gebissen, weil sie nicht gewusst hatte, ob sie es aussprechen durfte.
„Sprich weiter“, hatte Calliope sie aufgefordert.
„… der Mitglied der Isisgarde ist.“
Calliope hatte gelächelt. Dieses Lächeln, diese heitere Gelassenheit, hatte Roxy später immer wieder zur Weißglut gebracht, denn Calliope ließ sich für gewöhnlich durch nichts aus der Ruhe bringen. Insgeheim beneidete Roxy sie darum.
„Was hast du dir vorgestellt, Roxy?“, hatte Calliope gefragt. „Dass ich in einer Festung lebe? Das wäre witzlos. Von Menschen errichtete Mauern stellen für meine Feinde, die jetzt auch deine sind, kein Hindernis dar.“
Nachdem sie den Motor ausgeschaltet hatte, blieb Roxy noch für einige Sekunden im Wagen sitzen, um sich zu sammeln. Sie sah in der Küche Licht brennen, und es schien fast so, als würde sie erwartet. Das wäre kein Wunder, denn Calliope hatte erstaunlich sichere Vorahnungen. Während Roxy zwar die Anwesenheit oder die Nähe von Übernatürlichem spüren und auch unterscheiden konnte, ob es sich um Freund oder Feind handelte, konnte Calliope in der Regel präzise vorhersagen, wer demnächst auf der Bildfläche erscheinen würde.
Roxy stieg die Stufen zur Veranda hinauf und wollte anklopfen, als die Tür bereits geöffnet wurde. Roxy ließ die Hand sinken. „Ich werde mich nie daran gewöhnen“, sagte sie halb zu sich selbst.
„Das solltest du inzwischen kennen“, entgegnete Calliope und ließ sie eintreten. „Du bist drei Tage lang abgetaucht, ohne dich zu melden“, fügte Calliope hinzu und musterte Roxy aufmerksam.
„Ist das so schlimm? Ich melde mich doch auch sonst nicht jeden Tag bei dir.“
„Sicher. Aber gerade jetzt! Es gibt da ein paar …“, Calliope zögerte, bevor sie weitersprach, „… gewisse Umstände, weswegen ich mir Sorgen gemacht habe.“
„Vermutlich wirst du mir nicht verraten wollen, was für Umstände das sind?“
„Nein.“
„Genau das ist das Problem. Du erzählst mir nie etwas, und ich muss immer raten, was los ist.“
„Es ist sicherer so.“
„Für wen? Für mich wohl kaum.“
„Doch, genau für dich. Je weniger du weißt, desto weniger kann man dir anhaben.“
Roxy machte eine verzweifelte Geste. „Je weniger ich weiß, desto leichter stolpere ich in Situationen hinein, die mich unvorbereitet treffen. So sehe ich das.“
Calliope verriet mit keiner Miene, was sie dachte. „Es gibt eine Menge Dinge, die ich dir nicht erzählen darf“, erklärte sie. „Nur so viel: In drei Tagen wird es in der Unterwelt ein Meeting der maßgeblichen Gottheiten geben. Das Ganze erfordert eine Unzahl von strategischen Überlegungen und einen ungeheuren logistischen Aufwand. Es werden Geiseln als Garanten gestellt, und eine davon werde ich sein. Du bist also eine Zeit lang auf dich allein gestellt.“ Sie schloss die Tür hinter ihnen.
Wir machen Fortschritte, dachte Roxy. Bisher hatte Calliope sie nie mit so wichtigen Informationen versorgt. Während sie ihr durchs Haus folgte, berichtete Roxy: „Ich hatte inzwischen Besuch. Eine ganze Abteilung von Xaphans feurigen Kriegerinnen ist bei mir angerückt, in nicht gerade freundlicher Absicht.“
„Ich weiß nicht, ob das der richtige Umgang für dich
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