Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
dünnes dunkelrotes Rinnsal lief ihm die Brust bis zum Bauch hinunter.
Dagan trug nichts weiter als seine verwaschene Jeans. Er sah aus, als wäre er eben aus Roxys Bett gekommen und hätte sich nur schnell die Hose übergestreift. Sein langes blondes Haar sah zerwühlt aus. Nicht einmal Schuhe hatte er sich angezogen.
Calliopes Augen sprühten vor Hass und Wut. Wie ein gereiztes Tier zeigte sie die Zähne und gab ein Knurren von sich. In all den Jahren, in denen sie sich nun kannten, hatte Roxy bei ihrer sonst immer gelassenen und überlegenen Mentorin noch nie so eine geballte Ladung an Emotionen erlebt.
Dagans Aggressivität stand ihrer in nichts nach. Er hatte die freie Hand erhoben und die Finger gekrümmt, bereit vorzustoßen und der Gegnerin das Herz herauszureißen. Dagans graue Augen wirkten kälter als Polareis. Er rührte sich nicht, er schien auch nicht zu atmen. Ohne sie anzusehen,sagte er zu Roxy: „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich dich überall finde, egal wohin du rennst.“
Vorsichtig näherte Roxy sich zwei Schritte. „Ich bin ja gar nicht gerannt. Ich bin gefahren.“
Na schön, das war sehr platt, aber ihr war in diesem Augenblick alles recht, was den fatalen Fortgang dieses Geschehens aufhalten konnte. „Außerdem hab ich dir eine Nachricht hinterlassen.“
Er warf ihr kurz einen Blick zu. „Eine Nachricht?“ Es war offensichtlich, dass er die Zeilen nicht gelesen hatte. Er hatte den Zettel wohl nicht einmal entdeckt. Aber das spielte jetzt keine Rolle.
„Dagan, du wirst ihr nicht wehtun.“
Sie sah, wie Calliope zusammenfuhr, als sie das hörte.
Es war vermutlich nicht klug, auf diese Weise einzugreifen. Roxy war dermaßen aufgeregt, dass ihr schlecht wurde. Eine Bewegung von Dagan würde genügen, um Calliope das Leben zu nehmen. Sie versuchte an die Vernunft ihrer Mentorin zu appellieren. „Lass es, Calliope. Gib es auf!“
„Er hat versucht, dich zu töten, und du verteidigst ihn noch?“
„Nein, so war es nicht. Er ist nicht der Reaper, der mich angegriffen hat. Im Gegenteil. Er hat mir das Leben gerettet. Hör auf! Du kannst ihn nicht töten. Und er wird dir nichts tun, wenn du jetzt zurücktrittst.“ Das hoffte Roxy jedenfalls. Aber es war eine Gratwanderung. Ganz gleich, was sie mit ihm erlebt hatte, in erster Linie war Dagan ein Seelensammler, und ein Vorwärtsschnellen seiner Hand würde genügen, um Calliope den Garaus zu machen. Zweimal hatte Roxy das schon miterlebt, einmal hatte sie es sogar am eigenen Leib fast bis zur bitteren Konsequenz erfahren.
Keiner der beiden gab nach, keiner rührte sich von der Stelle.
Einige atemlose Augenblicke lang herrschte Stille, dannbrach Calliope das Schweigen und fragte in scharfem Ton: „Du meinst, ich kann ihn nicht töten? Oder willst du nicht, dass ich ihn töte?“
Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Oder der Augenblick einer großen Lüge. Roxy wusste es selbst noch nicht. Sie merkte nur, dass Dagan gespannt auf ihre Antwort wartete. Sie musste sich entscheiden, und sie hatte keine Zeit, lange über die Folgen ihrer Entscheidung nachzudenken. Ein Opfer musste sie auf alle Fälle bringen, denn Dagan und die Isistöchter – das vertrug sich nicht. Beide konnte sie nicht ha ben.
„Beides“, antwortete sie heftig. „Du kannst ihn nicht töten, und ich will auch nicht, dass du es versuchst.“
„Und warum nicht?“
Wieder fühlte sich Roxy in die Enge getrieben. Was sollte sie darauf antworten? Was dazu zu sagen gewesen wäre, wollte sie nicht aussprechen, nicht einmal denken. Es war eben, wie es war, und eigentlich gab es auch keine Worte dafür.
Langsam wandte Dagan ihr das Gesicht zu und sah sie mit einem Blick an, der ihr bis ins Herz drang. Für Sekunden vergaß Roxy alles um sich herum und sah nur diese unvergleichlichen grauen Augen. Sie wollte Dagan bitten, Calliope loszulassen, sich zurückzuziehen, am besten zu gehen. Sie wollte ihm sagen, er solle es ihr zuliebe tun. Aber sie wagte es nicht. Wenn er nun Nein sagte? Wenn sie ihm doch nicht so viel bedeutete, dass er auf sie hörte? Sie war drauf und dran, alles zu verlieren.
Mit einem Ruck wandte sich Dagan wieder Calliope zu. Roxy blieb fast das Herz stehen. Dann lockerte er den Griff um Calliopes Hals und ließ langsam die Hände sinken. Roxy wagte es, wenigstens ein wenig aufzuatmen, auch wenn sie wusste, dass es noch längst nicht ausgestanden war.
Calliope starrte ihn hasserfüllt an. Sie hielt ihn noch immer am Hals umklammert
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