Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
sein.
Während sie sich anzog, bewegte sie sich so leise, wie sie konnte. Sie fühlte sich zwar noch etwas wackelig auf den Beinen, aber gleichzeitig auf eine bestimmte Art belebt. Und sie musste unbedingt mit Calliope reden. Aus verschiedenen Gründen. Wegen der Isisgarde, wegen Dana, aber vor allem wegen dieses Mannes, der vor ihr in ihrem Bett lag und schlief wie ein Toter. Auf jeden Fall schnarcht er nicht, stellte sie lächelnd fest.
Obwohl es nicht ihre Art war, ihr Verhalten zu erklären, griff Roxy nach Zettel und Stift, um ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Sie platzierte sie so auf dem Nachttisch, dass er sie finden musste. Einfach ohne ein Wort zu verschwinden, brachte sie nicht übers Herz.
Bin bald zurück. Solltest Du wegmüssen, bevor ich wiederkomme, hinterlasse mir bitte eine Nummer, unter der ich Dich erreichen kann.
Sie las sich die Zeilen noch einmal durch und fragte sich, ob ihre Botschaft nicht zu banal war. Dann zuckte Roxy die Schultern. Es waren ihre Worte. Warum sollte sie sich verstellen? Außerdem wollte sie wirklich nicht, dass er hier saß und auf sie wartete.
Sie hatten zuvor in verschiedenen Welten gelebt, und jetzt waren sie für – wie lange, drei oder vier Tage? – zusammen gewesen. Ein bisschen Abstand würde ihnen beiden guttun.
Bei der Haustür griff sie sich die Schlüssel aus der Glasschüssel, schloss die Tür hinter sich und ging zur Garage. Als sie im Wagen saß, klappte Roxy als Erstes das Handschuhfach auf und nahm ihr Prepaid-Handy. Die Nummer, die sie zu wählen hatte, wusste sie auswendig. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, eine der sensiblen Telefonnummern irgendwo zu notieren.
Calliope und ihre Helferinnen hatten Dana und ihre Mutter inzwischen zweimal umquartiert. Aber Roxy wollte, dass sie noch einmal den Standort wechselten. Und dieses Mal, ohne dass jemand sonst davon wusste. Sie hatte ja eine Befähigung, die niemand sonst hatte. Sie konnte das Kind jederzeit orten. Aus einer Eingebung heraus hatte sie sich die Möglichkeit in jener Nacht verschafft, als sie Dana aus dem Motel geholt hatte. Sie hatte Danas Blut gekostet, als sie im Wagen gesessen hatten.
Die Kleine hatte neben ihr gesessen und war sichtlich erschöpft gewesen. Im Schlaf hatte sie sich eine Stelle aufgekratzt, ein Blutstropfen war ihr am Arm heruntergelaufen. Roxy hatte den Tropfen mit dem kleinen Finger aufgenommen und den Finger in den Mund gesteckt. Diese Spur würde sie jetzt jederzeit zu dem Kind führen, wo auch immer es sich befand. Dass sie instinktiv so gehandelt hatte, war jetzt ihr Glück. Damals hatte sie noch nicht entfernt daran gedacht, dass die Kleine nochmals entführt werden könnte.
Aber jetzt wurde ihr wieder bewusst, dass am Geschmackvon Danas Blut etwas Eigenartiges war, eine ungewöhnliche Energie. Zuerst hatte Roxy das dem Umstand zugeschrieben, dass sie nie zuvor das Blut eines Kindes gekostet hatte. Inzwischen war sie davon nicht mehr überzeugt. Es war ein unverwechselbarer Beigeschmack in dem Blutstropfen gewesen, einer, der Roxy sehr vertraut war.
Wenn es stimmte, was sie vermutete, war Roxy der Lösung des Rätsels um den Tod des Seelensammlers schon bedeutend näher gekommen. Ihr wurde auch klar, welchen Part Dana dabei spielte und warum sich so viel um sie drehte. Schließlich begann Roxy zu begreifen, wie es jemandem gelungen sein konnte, einen Reaper zu töten.
Nach dem siebten Klingeln meldete sich eine verschlafene Frauenstimme. „Müssen wir wirklich jetzt sofort aufbrechen?“, fragte sie als Erstes.
Roxy hatte keine Erklärung abgeben müssen, sie hatte überhaupt nichts sagen müssen. Die Nummer des Handys, das sie Danas Mutter gegeben hatte, kannte nur sie.
„Dana schläft schlecht und hat Albträume“, erklärte die Mutter. „Mir ist gerade erst gelungen, sie zum Einschlafen zu bringen.“
Es half nichts. Wenn jemand die beiden aufspürte, konnten Danas Albträume ohne Weiteres wahr werden. „Ich habe es dir genau erklärt.“ Roxy musste hart bleiben. „Wenn ich anrufe, müsst ihr fort.“
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Dann antwortete Danas Mutter kleinlaut: „Ja, ich weiß. Es tut mir leid.“
„Wenn du das nicht schaffst und es dir zu viel wird, musst du es jetzt sagen.“
„Für meine Tochter ist mir nichts zu viel“, antwortete sie entschlossen. Und mit einem Schlag war alle Unsicherheit aus ihrer Stimme verschwunden. „Für Dana tue ich alles.“
Roxy bekam eine Gänsehaut, weil sie sofort an ihre Mutter
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