Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
ist“, tadelte Calliope sie ironisch.
„Be stimmt nicht.“
Plötzlich blieb Calliope vor Roxy stehen und musterte sie aufmerksam mit zusammengekniffenen Augen. Dann griff sie ihr ohne Vorwarnung in den Halsausschnitt des T-Shirts und zog ihn bis zum Ansatz der Brüste hinunter, wo sie die gut verheilte, aber noch immer frische Narbe entdeckte. Calliope wurde blass. Es war das erste Mal, dass Roxy so etwas wie blankes Entsetzen in ihren Augen erblickte.
„Du hast“, begann Calliope, verstummte aber gleich wieder. Sie presste die Lippen zusammen und atmete tief durch. Leise fragte sie dann: „Du hattest nicht allein mit den Feuergeistern zu tun, stimmt’s?“
„Nein, ein Reaper war auch noch da“, sagte Roxy leichthin. Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es falsch gewesen war. Sie hatte es als Nebensache, beinah als Scherz abtun wollen.
Jetzt merkte sie deutlich, dass Calliope diesen Umstand alles andere als leicht nahm. Von einer Sekunde auf die andere war ihr Gesicht wie zur Maske erstarrt. Wortlos drehte Calliope sich um und ging voraus in die Küche. Roxy folgte ihr und verfluchte sich im Stillen für ihre Dummheit.
Sie drehte sich noch einmal zur Haustür um, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen war. Etwas lag in der Luft. Roxy vermochte nicht zu unterscheiden, ob es da draußen lauerte oder hier im Haus.
Als sie in der Küche waren, blieb Calliope stehen und lehnte sich an den gefliesten Küchentresen. „Was ist?“, fragte sie und sah Roxy an.
„Fällt dir irgendetwas auf?“
Calliope nahm sich mit der Antwort Zeit. „Nein“, sagte sie dann.
„Dann ist auch nichts.“ Roxy wusste, dass sie sich darauf verlassen konnte. Ihre Mentorin hatte eine noch wesentlich schärfere Wahrnehmung für übernatürliche Schwingungenals sie. Wenn Calliope sagte, es sei nichts, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen.
Sie wandte sich zum Tresen und hob neugierig den Deckel einer Porzellandose, die darauf stand, schloss ihn aber gleich wieder. Leer. Roxy hatte Hunger, und ein paar von den köstlichen selbst gebackenen Zimtkeksen, die sonst immer darin waren, hätten ihr gutgetan. Sie riskierte einen Blick in den Kühlschrank, aber auch da gab es wenig Verlockendes.
„Morgen ist erst wieder Einkaufstag“, bemerkte Calliope, während sie den Wasserkessel auf den Herd stellte. Sie klang immer noch kühl und reserviert. Roxy wusste, dass die Sache mit der Narbe auf ihrer Brust noch nicht ausgestanden war.
Schließlich entdeckte sie in der hintersten Ecke des Kühlschrankfachs eine Plastikschale mit Deckel. Sie holte sie heraus. Es handelte sich um einen Rest Reissalat mit Erbsen und Schafskäse. Roxy schnupperte daran. Balsamico-Essig. Was war das? Sie kostete. Getrocknete Preiselbeeren. Merkwürdiger Einfall. Aber warum nicht. Roxy nahm sich eine Gabel aus der Schublade und aß.
Noch während sie am Tresen lehnte und kaute, hatte Roxy erneut dieses beunruhigende Gefühl, wie man es manchmal hat, wenn man sich beobachtet glaubt. Nur dass es stärker war, alarmierender. Sie ließ die Gabel und den Salat auf dem Tresen und ging in die Mitte der Küche. „Merkst du nichts, Calliope?“, fragte sie erneut.
Calliope verharrte einen Moment mit angespannter Miene, dann runzelte sie die Stirn und meinte: „Ich kann nichts entdecken. Aber das heißt nichts. Was fühlst du denn?“
„Etwas Kaltes. Nicht kalt wie Eis, sondern emotional kalt. In mir …“
Sie brach mitten im Satz ab, denn Calliope war schon nicht mehr in der Küche. Ihre Bewegungen waren so schnellgewesen, dass sie für das menschliche Auge kaum noch wahrnehmbar gewesen waren. Roxy hatte gar nicht gewusst, dass ihre Mentorin diesen unglaublichen Speed beherrschte.
In der nächsten Sekunde wusste sie, wer in der Nähe war. Dagan. Er musste ihr gefolgt sein und war hier irgendwo.
„Scheiße“, flüsterte sie und lief in die Diele hinaus.
Bei dem Anblick, der sich ihr bot, war Roxy wie erstarrt. In einer hilflosen Geste streckte sie die Hand aus, als könnte sie damit das Unheil aufhalten.
In der Mitte der Halle standen bewegungslos wie die „lebenden Bilder“ in altmodischen Varietés Calliope und Dagan, jeweils die Hand am Hals des anderen. Es herrschte eine unheimliche Stille, in der nur Calliopes keuchender Atem zu hören war. Sie hatte ihren Dolch mit dem Elfenbeingriff gezückt und dessen Spitze auf Dagans Brust über dem Herzen gesetzt. Die scharfe Spitze war schon durch die Haut gedrungen, ein
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