Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
sein, dass er mit seinen schwachen telepathischen Kräften die richtige Eingebung gehabt hatte, um Roxy aufs Glatteis zu führen?
„Was wollen die Setnakhts von dieser Frau?“, bedrängte sie Marin.
„Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht. Das schwöre ich bei meinen Eiern.“
Die Reihenfolge war interessant, fiel Roxy beiläufig auf: Erst kam die tote Mutter und als Steigerung die eigenen Testikel. Aber sie war unzufrieden. „Gib mir noch einen anderen Namen. Einen, der mit dem Blonden zu tun hat, den sie ermordet haben. Das ist nicht zu viel dafür, dass ich dich am Leben lassen soll.“
Sie konzentrierte sich darauf, ihre Gedanken gegen ihn abzuschirmen. Für den Fall, dass er tatsächlich telepathisch begabt war. Und sie hatte gelernt, gegen solche Versuche ein Energiefeld aufzubauen. Währenddessen glaubte sie, Marins Zähne aufeinanderschlagen zu hören.
„Rede!“, wiederholte sie ihre Aufforderung leise, aber energisch.
„Krayl – ich meine, ich hätte den Namen Krayl gehört.“ Roxy merkte, dass ihr das Herz bis zum Halse schlug.
Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit. Elf Jahre waren seit ihrer Begegnung mit Dagan Krayl in jener verlassenen, dreckigen Fabrik in Chicago verstrichen, in einem Kellerraum, dessen Wände von oben bis unten mit Blut bespritzt gewesen waren. Seit sich ihr Leben, ihr Menschendasein, verändert hatte.
Sie erinnerte sich noch genau an das Funkeln in seinen Augen. Er hatte die Hand nach ihr ausgestreckt. Er hatte nach ihrem Anhänger, den sie um den Hals getragen hatte, gegriffen. Aber sie hatte geglaubt, er würde ihre Brüste berühren.
Mit einem wütenden Aufschrei hatte sie ihm die Fingernägel ins Gesicht gepresst und ihm gleichzeitig in den Unterarm gebissen. So kräftig, dass ihre Zähne bis in sein Fleisch gedrungen waren. Sein Blut war ihr in den Mund geschossen. Sie spürte dessen metallischen Geschmack noch auf der Zunge, als wäre es an diesem Tag passiert. Dann hatte sie kaum noch gewusst, was sie tat. Wie eine ausgehungerte Hyäne hatte sie sich in ihn verbissen. Darauf hatte er ihr mitder flachen Hand einen Schlag gegen den Brustkorb versetzt, sodass ihr die Luft weggeblieben und sie rückwärts auf die versiffte Matratze gefallen war.
„Ich habe dich gewarnt“, hatte sie gesagt. „Ich habe dir gesagt, dass du was erleben kannst, wenn du mich anfasst.“ Währenddessen hatte sie beobachtet, wie ihm das Blut aus der halbmondförmigen Wunde, die ihre Zähne hinterlassen hatten, den Arm hinuntergelaufen war.
„Was soll der Quatsch? Du bist ja schlimmer als eine abgezogene Handgranate. Ich wollte mir den silbernen Anhänger ansehen, nicht an deine Titten.“
Sie hasste diesen Ausdruck und war sich ziemlich sicher, dass er es gewusst und ihn absichtlich benutzt hatte. Das andere war: Sie hatte einen aus der anderen Welt gebissen und sein Blut geschmeckt, das Blut eines Mannes, der anderen Leuten die Leiber zerfetzte, als ob es nichts wäre. Nur sie hatte er verschont und sie stattdessen auf diesem Schlachtfeld zurückgelassen, ohne dass sie gewusst hätte, wie ihr geschehen war. Dass etwas mit ihr geschehen war, hatte sie erst Monate später gemerkt. Es war eine so grausige Entdeckung gewesen, dass sie sie zuerst gar nicht hatte wahrhaben wollen.
Krayl. War er der Seelensammler, den sie umgebracht hatten? Wenn es so wäre, hätte sie froh und erleichtert sein müssen. Die Reaper gehörten zu Sutekhs Gefolgschaft und damit nicht gerade zum engeren Freundeskreis der Isistöchter. Warum also zitterte sie bei dem Gedanken, dass er es gewesen sein könnte? War es, weil er auf eine bizarre, verdrehte Weise … freundlich zu ihr gewesen war?
Er hatte zu ihr gesagt: „Ich möchte, dass du künftig ein Leben führst, das so weit wie möglich von Plätzen wie diese entfernt ist. Und …“, mit dem Kinn hatte er auf die beiden blutigen Leichen auf dem Fußboden gewiesen, „… von Menschen wie diesen da. Ein einfaches, durchschnittliches, sicheres Leben.“ Dabei hatte er sie eindringlich mit seinen grauen Augen angesehen.
Ein sicheres Leben . In ihrem ganzen bisherigen Leben hatte es noch nie so etwas wie Sicherheit gegeben. Solange sie denken konnte, war es ein schwieriger, anstrengender Balanceakt gewesen, immer auf der Kippe.
Sie zwang sich, sich wieder auf Marin zu konzentrieren. „Was war mit Krayl?“, wollte sie wissen. „Was war er, Täter oder Opfer?“
„Ich habe nur diesen Namen gehört. Welche Rolle er gespielt hat, weiß ich
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